Offener (und verzweifelter) Brief an diejenigen, die unser eigenes Brot essen
[Dieser Text wurde während des Hungerstreiks von Alfredo Cospito veröffentlicht. Wir verbreiten ihn trotzdem, da wir denken, dass er wichtige Reflexionen und Kritiken anstößt.]
Liebe Gefährt:innen,
in diesen dunklen Zeiten, in denen sich jeder Horizont endgültig vor unseren Augen zu schließen scheint, wenden wir uns an euch, und nur an euch (an die Kämpfer:innen, nicht an die Jäger:innen des Konsenses; an die unerschütterlichen Träumer:innen, nicht an die situationsbedingten Pragmatiker:innen – also nicht an die Militanten und Opportunisten). An Euch, die Ihr uns in all den Jahren in Italien und in der Welt begegnet seid, oder auch an völlig Unbekannte, die Einzigen, die unsere gegenwärtige Geisteshaltung und unsere Worte verstehen können. Viele sagen, dass diejenigen, die keine Hoffnung haben, schweigen sollten. Das würde zwar das Schweigen erklären, in das viele von uns verfallen, aber wir stimmen dem nicht zu. In gewisser Weise sind wir sogar der Meinung, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Diejenigen, die hartnäckig mit beschwörenden Erzählungen hausieren gehen (vom himmlischen Paradies als Belohnung für irdische Resignation über den Kommunismus als unausweichliches Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung bis hin zum Aufstand, der jede Bürgermobilisierung oder jeden Nachbarschaftsaufstand begleitet), sollten den Mund halten. Gerade jetzt, wo die Menschheit auf dem besten Wege ist, sich selbst zu vernichten, wo der Planet am Rande des ökologischen Kollapses steht, wo das soziales Massaker von Tag zu Tag schlimmer wird, wo ein Krieg mit Atomwaffen geführt wird, wo die freiwillige Knechtschaft so weit verbreitet ist, dass jedes Streben nach der geringsten Freiheit lächerlich erscheint, scheint es uns dringender und notwendiger denn je, tief in die Wirklichkeit einzudringen und nicht an der Oberfläche der Dinge zu kratzen, um daraus beruhigende Illusionen abzuleiten. Deshalb ist dieser Brief verzweifelt, weil er aus der Entmutigung angesichts einer Situation entstanden ist, die in jeder Hinsicht ausweglos erscheint.
Wir verstecken es nicht. Wir haben auf das Zusammentreffen von Denken und Handeln gesetzt, wir sind von Meinungen und Inszenierungen eingenommen. Wir haben den Einzigen und sein Eigentum beschworen und sind nun von Selfies und ihrer Eitelkeit umgeben. Wir haben versucht, Utopien zu verbreiten, und sind vom Realismus erdrückt worden. Wir haben die exzessivsten und einzigartigsten Ideen geliebt und sind der pauschalisierten und massentauglichen Propaganda ausgeliefert. Wir haben uns nach dem Erwachen des Gewissens gesehnt und sind nun Gefangene des Algorithmus. Wir haben der Ethik den Vorrang gegeben und sind von der Politik überwältigt worden. Die Poesie hat vielleicht Auschwitz überlebt (und das Fernsehen?), aber das kritische Denken wurde im Silicon Valley ausgelöscht. Wir sind wie die deutschen Revolutionäre geworden, denen Stig Dagerman1 in der unmittelbaren Nachkriegszeit begegnete: lebende Ruinen, würdevoll, aber selten.
Und heute? Was haben wir noch zu sagen, wenn die Worte überall ihre Bedeutung verloren haben? Oben wie unten, in den Palästen wie auf den Plätzen, alles ist zu einem krächzenden Geschwätz geworden, zu einer riesigen Farce, die einen bestürzt und fassungslos zurücklässt. Die x-te Demonstration in diesem Sinne ist in den letzten Tagen2 die Reaktion auf den Hungerstreik bis zum bitteren Ende des anarchistischen Gefangenen Alfredo Cospito, dessen angekündigte, erwartete, befürchtete, von manchen gewünschte Leiche einen wahren Maskenball eröffnet hat.
Habt ihr schon einmal von Satanta, dem Weißen Bären gehört, dem Häuptling der Kiowa, einem der vielen Stämme der amerikanischen Ureinwohner:innen? Er war groß und kräftig, nahm an vielen Schlachten teil und zeichnete sich durch seinen Mut aus. Er war einer der ersten Indianerhäuptlinge, die von einem weißen Gericht verurteilt wurden. Er verbrachte einige Jahre im Gefängnis, wurde dann freigelassen, aber aus Angst, er könne die kriegerischen Instinkte der jüngeren Indianer wecken, wurde er kurz darauf wieder ins Gefängnis gesteckt. Einige Jahre lang verbrachte Weißer Bär viele Stunden damit, durch die Gitterstäbe zu spähen. Seine Augen blickten nach Norden, in die Jagdgründe seines Volkes. Als er erkannte, dass er nie wieder frei durch die Wälder und Prärien reiten würde, als er erkannte, dass er nie wieder in einem Teepee (einem Zelt mit kreisförmigem Grundriss, Symbol für Bewegung und Gleichheit) schlafen würde, als er erkannte, dass er nie wieder die anderen Mitglieder seines Stammes sehen würde, sondern in einer rechteckigen Betonzelle verrotten würde, beschloss er, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Am 11. Oktober 1878 stürzte er sich aus dem Fenster eines Gefängniskrankenhauses in Huntsville, Texas. Eine nachvollziehbare Entscheidung. Eine menschliche Entscheidung.
Alfredo Cospito, ebenfalls groß und bis vor kurzem von kräftiger Statur, ist kein amerikanischer Ureinwohner, sondern ein Anarchist, der vor mehr als zehn Jahren ins Gefängnis kam, weil er dem Hauptverantwortlichen für die Atomenergie in Italien, dem Geschäftsführer von Ansaldo Nucleare in Genua, in die Beine geschossen hatte. Seit dem 20. Oktober befindet er sich im Hungerstreik [bis zum 19.04.2023], um gegen das Gefängnisregime 41Bis zu protestieren, dem er seit Mai letzten Jahres unterworfen ist. Sein Leben ist in Gefahr, aber er will nicht aufgeben. Er sagt, dass er bis zu seinem letzten Atemzug weitermachen wird, und da man seine Hartnäckigkeit und Entschlossenheit kennt, ist er dazu auch in der Lage. Nur er kann sagen, was er akzeptieren kann und was nicht. Er allein kann entscheiden, was er mit seinem Körper machen will. Wie er leben möchte, wie er sterben möchte. Und warum.
So weit, so gut. Jeder trifft seine eigenen Entscheidungen, ob man sie teilt oder nicht. Aber im Gegensatz zum Weißen Bären hat Alfredo Cospito eine politische Entscheidung getroffen. Er nimmt den Tod in Kauf, um eine bestimmte Forderung durchzusetzen. Mit seinem Hungerstreik will er die Abschaffung des 41bis erreichen, das heißt, er will den Staat zwingen, die so genannte „harte Haft“ aus seinem Gesetz zu streichen. Je mehr Tage vergehen, je mehr Solidaritätsaktionen sich in der ganzen Welt ausbreiten und je näher der tragische Ausgang rückt, desto mehr Aufsehen erregt sein Kampf. Dass sich die Reaktionäre über diese „Erpressung“ der Institutionen durch einen Verurteilten empören, liegt in der Natur der Sache und ist nicht weiter erwähnenswert. Es ist auch nicht verwunderlich, dass die Progressiven oder Pseudodissidenten verschiedener Couleur sich auf diesen „zivilisierten gewaltlosen Protest“ stürzen, weshalb man über die Solidarität der üblichen Schöngeister (Priester, Intellektuelle, Künstler) nur die Achseln zucken und über die der Halunken (Richter, Ex-Minister, Neofaschisten) die Nase rümpfen kann… Das ist das Spiel der Dinge, und es ist sinnlos, zu versuchen, es zu verstehen.
Dennoch können wir nicht umhin, denen, die Ohren und Herzen haben, eine Frage zu stellen: Wäre so viel übergreifendes Interesse möglich gewesen, wenn die ursprüngliche Forderung nicht an sich politisch-humanitärer Natur gewesen wäre? Was wir meinen, sagt der Anwalt des Anarchisten selbst, wenn er erklärt, dass „der große Verdienst von Cospito darin besteht, die öffentliche Debatte darüber wieder in Gang gebracht zu haben, was das 41bis ist und ob es mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht“. Das sind nicht nur die Worte eines Anwalts, der seine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen macht, sondern es ist die einzig mögliche Perspektive auf die aufgeworfene Frage: Wenn die Aufgabe des Gefängnisses die Umerziehung ist, wie man uns glauben machen will, welchen Sinn hat dann ein hartes Strafsystem wie das 41bis? Sollte der Staat es nicht abschaffen oder zumindest so weit wie möglich einschränken? (Beschränkung auf Mafiosi, die Kinder in Säure auflösen, als ob man nicht wüsste, dass der Staat diese Mafiosi nach ihrer Reue freigelassen hat). Obwohl diese Frage in der Öffentlichkeit diskutiert wird, ist sie eine rein institutionelle Frage. Nicht sozial, nicht populär, nicht klassenbezogen und schon gar nicht nihilistisch, sondern institutionell. Dies wird in dem Appell für Cospito, der „an die Gefängnisverwaltung, den Justizminister und die Regierung“ gerichtet ist und von Dutzenden Juristen, Richtern und Akademikern in verschiedenen Funktionen unterzeichnet wurde, aufgegriffen und bekräftigt: „Die Haltung derer, die den Körper zum ultimativen Instrument des Protests und der Bestätigung ihrer Identität machen, als Herausforderung oder Erpressung zu bezeichnen, bedeutet, unsere Verfassung zu verraten, die das menschliche Leben und die Würde der Person an die Spitze der Werte stellt, deren Schutz dem Staat anvertraut ist, um seiner eigenen Legitimität und Glaubwürdigkeit willen und nicht als Zugeständnis an diejenigen, die sich ihm widersetzen. Darin liegt der Unterschied zwischen demokratischen Staaten und autoritären Regimen.“
Es genügt, solche Sätze und die Namen der Unterzeichner zu lesen, um zu verstehen, worum es ihnen wirklich geht: um den Versuch zu retten, was von dem totalen Schiffbruch, den das Recht erlitten hat, noch zu retten ist. In gewissem Sinne sprechen diejenigen die Wahrheit, die sagen, dass sie Alfredo Cospito retten wollen, um die Demokratie zu verteidigen, die so delegitimiert ist, dass es notwendig ist, ihre Entgleisungen durch eine noble Geste auszugleichen. Das Leben eines Anarchisten zu retten, der noch nie jemanden getötet hat, könnte die richtige Gelegenheit sein. „Ja, es stimmt, wir haben die Unruhestifter von der Knastrevolte in Modena getötet, wir haben die Gefangenen von Ivrea massakriert, wir haben das Leben von Millionen Menschen unmöglich gemacht, aber kommt schon, wir waren nachsichtig mit diesem Anarchisten…“. Das ist es, was einen Gherardo Colombo dazu bringt, sich um Cospito zu sorgen, der immer als der Richter in Erinnerung bleiben wird, der Pinelli zum zweiten Mal tötete3. Eine Motivation, die sich auch auf diejenigen übertragen lässt, die wie Adriano Sofri oder Donatella Di Cesare an der Lynchjustiz gegen die Gegner des Greenpass beteiligt waren.
Aber alle gelegentlichen Ergüsse des guten Gefühls in dieser Welt können nicht mehr über die nackte Tatsache hinwegtäuschen: Die Demokratie ist ein autoritäres Regime. Und das ist nach drei Jahren staatlicher Demütigung menschlichen Lebens und menschlicher Würde im Namen der Volksgesundheit keine radikale Kritik einiger Hitzköpfe mehr, sondern eine banale Feststellung der Tatsachen.
Man muss kein:e Anarchist:in sein, um zu erkennen, dass die Verfassung nicht mehr als ein Toilettenpapier ist, wenn man sieht, wie sie in letzter Zeit von ihren eigenen Bewunderern öffentlich verwendet wird. Selbst diejenigen, die sich eine solide Gelehrsamkeit und einen philosophischen Ruf auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft erworben haben, mussten in letzter Zeit zugeben, dass sie einem Juristen oder jemandem, der die Art und Weise anprangert, in der das Recht und die Verfassung manipuliert und verraten wurden, nicht mehr „entgegentreten können, ohne das Rechtssystem und die Verfassung nicht in Frage zu stellen“. Muss ich an dieser Stelle, ganz abgesehen von der Gegenwart, daran erinnern, dass weder Mussolini noch Hitler, die in Italien und Deutschland geltenden Verfassungen in Frage zu stellen brauchten, sondern in ihnen die Rechtsgrundlagen fanden, die sie zur Errichtung ihrer Regime benötigten? Es ist also möglich, dass die Geste derer, die heute versuchen, ihren Kampf auf die Verfassung und die Rechte zu stützen, bereits im Ansatz besiegt ist… Es ist, als ob bestimmte Verfahrensweisen oder bestimmte Prinzipien, an die man geglaubt hat, oder besser gesagt, zu glauben vorgab, nun ihr wahres Gesicht gezeigt haben, das man nicht ignorieren kann. Es ist paradox, dass das, was selbst ein Akademiker wie Agamben zu verstehen vermochte, den meisten Subversiven entgeht, die heute das Ende vom 41bis fordern. Unter dem moralischen Druck, den Tod eines Anarchisten zu verhindern, sehen sie den Sinn ihrer Mobilisierung nicht.
Es genügt festzustellen, dass der Ton dieses Hungerstreiks derselbe bleibt, wenn man von den Palästen und Gerichtssälen auf die Straße geht. Er ist, gelinde gesagt, erbärmlich. Ganz zu schweigen von der peinlichen Lobpreisung der Heiligkeit des Märtyrertums. Aber was soll man von der ständigen Unterscheidung zwischen bösen Mafiosi und guten Anarchist:innen halten? Oder von der beklagenswerten Anprangerung des Missverhältnisses zwischen den begangenen Taten und den verhängten Strafen (sicherlich nichts Neues, wenn man an die 14 Jahre Haft denkt, die für die Tage von Genua 2001 verhängt wurden), die zwar im Gerichtssaal angebracht ist, aber aus dem Munde derer, die es nicht mehr wagen, immer und nur die Zerstörung der Gefängnisse zu unterstützen, besonders widerwärtig klingt? Was kann man über den üblichen „Quantitätswahn“ sagen, der so anschwillt, aber nichts wachsen lässt, und der von denen genährt wird, die die gelegentlichen Gewissensbisse von Richtern und Intellektuellen als Beweis für einen breiten Konsens nehmen? Nun, es ist sicherlich unmöglich zu sagen, was unfreiwillig komischer ist: der Vorschlag eines norwegischen Politikers, einem der größten Kriegsherren (dem NATO-Sekretär) den Friedensnobelpreis zu verleihen, oder die Initiative einiger „Anarchist:innen“, die darauf abzielt, „das ohrenbetäubende Schweigen des Pächters der Quirinalspalast“ [Dienstsitz des Präsidenten der Italienischen Republik] zu brechen, um „das Gewissen (und den seligen Schlaf…) derer zu wecken, die die Sicherheit von Alfredo schützen sollten“. Wenn man von denen hört, die unermüdlich ihre „Solidarität mit Alfredo und seinen Praktiken“ bekunden, dass ein Staatsoberhaupt über die Gesundheit eines Staatsfeindes wachen sollte, ist man geneigt, die Worte eines berühmten französischen Anarchisten zu paraphrasieren4, der das Schafott bestieg: In dem virtuellen Krieg, den sie der Bourgeoisie erklärt haben, fordern bestimmte Anarchist:innen Schutz; sie geben nicht den Tod, sie fordern, ihn nicht zu erleiden.
Im Gegensatz zu denjenigen, die sich in einer Fata Morgana sonnen und aus den Äußerungen einiger Fernsehjournalisten, die den Hungerstreik von Cospito kommentierten, eine elektrisierende Schwäche des Staates ableiten, scheint es uns im Gegenteil, dass die Anarchist:innen mehr als nur schwache und authentische Marionetten geworden sind, wenn sie darauf reduziert werden, zu Megaphonen der verfassungspolitischen Kämpfe zu werden. Der Staat hat es nicht einmal mehr nötig, die anarchistische Bewegung zu liquidieren, die sich selbst liquidiert hat, indem sie auf ihre eigenen Ideen verzichtet hat, um pragmatische taktische Annäherung zu verwirklichen. Wenn heute ein großer Teil der Linken sich den Anarchist:innen anschließt, dann nicht, weil die Ereignisse sie dazu zwingen, sondern weil diese Anarchist:innen heute fast die Einzigen sind, die dem Aufruf folgen, „etwas Linkes, oder auch etwas Nicht-Linkes, etwas Zivilisiertes zu sagen…“ – wie zum Beispiel die Abschaffung des 41bis zu fordern. Übrigens, habt ihr euch schon gefragt, wie viel Hoffnung auf einen Sieg in einem solchen Kampf besteht? Wenn man bedenkt, dass die Qualen eines Anarchisten im Gefängnis und ein paar zerbrochene Fensterscheiben im Jahr 2023 den Staat wahrscheinlich genauso wenig brechen können wie die Bomben der Mafia, die vor dreißig Jahren explodierten, wie viele Stiche können wir dann noch spielen? Der Erlass der Freiheitsstrafe nach Artikel 41bis und die Nichtanwendung der lebenslangen Freiheitsstrafe in seinem Fall? Was für ein großartiger Sieg: Unter dem Regime der gewöhnlichen Hochsicherheit hätte er nur mit zwanzig Jahren Gefängnis rechnen müssen…
Vor vierzig Jahren gab es diejenigen, die den Vorschlag einer Amnestie für die politischen Gefangenen mit der Begründung kritisierten, dass der moralische Druck von viertausend in Einsamkeit sterbenden Leichen keine Verhandlungen mit dem Staat rechtfertigen könne. Man dürfe nicht die Freilassung der Genossen fordern, um den Kampf wieder aufzunehmen, sondern man müsse kämpfen, um die Freilassung der Genossen zu erreichen. Selbst wenn man die unterschiedlichen historischen Kontexte berücksichtigt, ist in der Tat ein Jahrtausend vergangen, wenn man heute die Änderung des Gefängnisregimes für einen Anarchisten (plus drei Stalinist:innen und ein paar hundert angebliche Mafiosi) zum Ziel der Mobilisierung einer ganzen Bewegung macht. Man kann ein schönes Märchen über die anarchistische Außergewöhnlichkeit in der allgemeinen italienischen Situation erzählen und sich heute die Qualen der Bourgeoisie vorstellen, die wütend auf den Staat ist, weil er die Anarchist:innen „entfesselt“ hat, so wie man sich gestern die Wiederauferstehung der Pariser Kommune unter dem Himmel von Venaus5 vorgestellt hat. In Wirklichkeit herrscht der Staat heute so unangefochten, dass er sich alles erlauben kann: Anarchist:innen nach Belieben im Gefängnis verrotten zu lassen, Gewerkschafter wegen Erpressung anzuklagen oder Umweltaktivisten unter besondere Beobachtung zu stellen. Warum sollte er das nicht tun? Weil es verfassungswidrig ist? Wenn er 60 Millionen ehrliche Bürger in den eigenen vier Wänden eingesperrt hat, ohne dass jemand einen Mucks von sich gegeben hätte, ja sogar unter dem Beifall vieler r-r-Revolutionäre, dann kann er doch einen Anarchisten tot oder lebendig begraben. Ohne sich rechtfertigen zu müssen. Vor wem sollte er sich rechtfertigen? Vor den Journalisten? Vor den Intellektuellen? Vor den Politikern? Vor den Juristen? Vor der öffentlichen Meinung? Vor den Untertanen, die ihren eigenen Schatten und sogar ihren eigenen Atem fürchten? Vor den Subversiven, die nur Forderungen zu stellen vermögen, dass der Staat sich besser, gerechter und fairer verhalten soll?
Der Sieg des Staates ist dann wirklich vollkommen, wenn seine Feinde nur noch seine eigene Sprache sprechen und zeigen, dass sie nicht mehr den Himmel stürmen wollen (sie begnügen sich damit, ein paar Höhlen in der Erde zu verteidigen).
Alfredo Cospito lebt noch und setzt seinen Hungerstreik fort. Er tut, was er kann und was ihm einfällt, um aus dem Loch herauszukommen, in dem er eingesperrt ist. Aber da er sich in den Händen des Staates befindet und dieses Spiel ausschließlich auf institutionellem Boden gespielt wird, gibt es keinen Grund, optimistisch über sein Schicksal zu sein. Die Regierung hat reichlich Gelegenheit, mit der Situation zu jonglieren. Sie kann sich einen Dreck scheren und in der Tradition des Patriotismus die Dinge gerade rücken, sie kann die Tortur des Gefangenen durch Zwangsernährung verlängern, sie kann sich heute großzügig zeigen, um morgen noch grausamer zu sein. Er kann sogar eine gewisse humanitäre Gesinnung an den Tag legen und dann den Stecker ziehen („Oops, es gab eine Komplikation, es tut uns leid, wir haben alles getan, aber ihr wisst ja, wie das ist, sein Körper war geschwächt“). Wie jeder Glücksspieler weiß, gewinnt auf lange Sicht immer die Bank.
„Wenn die Sinopen mich zur Verbannung verurteilt haben, verurteile ich sie dazu, in ihrer Heimat zu bleiben“, soll Diogenes der Zyniker gesagt haben. Ist das die Kunst, gute Miene zum bösen Spiel zu machen oder eine zornige Lebensphilosophie? Liebe Gefährten und Gefährtinnen, auch wir sind zum Exil verurteilt, zum ewigen Exil, weil es in dieser Welt keinen Platz mehr für uns gibt. Ein Traum nach dem anderen, ein Wunsch nach dem anderen, eine Freiheit nach der anderen, alles wird uns entrissen. Und das Wissen, dass das Aussterben der Freiheitsliebenden dem Aussterben der Verfechter der Autorität vorausgeht, ist für uns kein großer Trost. Aber hier, inmitten von Einsamkeit und Verzweiflung, gibt es nicht nur die Mutlosigkeit, Bitterkeit, Melancholie, Übelkeit. Hier gibt es auch das, was man den Mut der Verzweiflung nennt, die Entschlossenheit, alles zu versuchen, weil man nichts mehr zu verlieren hat.
Finden wir diesen Mut. Verbannen wir die domestizierten Zweibeiner dazu in ihrer Heimat zu bleiben und vergeuden wir keine Zeit mehr damit, ihren Parteien, ihren Klassen, ihren Bewegungen hinterherzulaufen. Bereichern wir die Wege des Exils. Bereiten wir uns auf die Einsamkeit vor. Üben wir, in der Wüste zu überleben, uns in der Wüste zu bewegen, in der Wüste zu kämpfen. Ohne Skrupel, ohne Mitleid. Für eine zornige Lebensphilosophie, für eine rachsüchtige Lebensphilosophie.
Tod, das Leben liegt auf der Lauer.
(gefunden auf abirato.net)
1 Stig Halvard Dagerman war ein schwedischer Anarchist und veröffentlichte das Buch „Deutscher Herbst“. In diesem beschreibt er 1946 das zerstörte Nachkriegsdeutschland. ein Bild des zerstörten Landes nach dem Weltkrieg zu geben.
2 Es wird sich höchstwahrscheinlich auf die italienweit mobilisierte Demonstration in Turin am 04.03.2023 bezogen. Im Verlauf dieser Demonstration kam es zu massiven Angriffen auf Banken, Luxusautos/Geschäfte.
3 In Rahmen einer richterlichten Ermittlung, u.a. geleitet von Gherardo Colombo wurde behauptet, das Giuseppe Pinelli angeblich, als er am Fenster auf der Polizeiwache, einen Schwächeanfall hatte dadurch aus dem Fenster gestürzt sein muss.
4 Im Original heißt es: „In diesem erbarmungslosen Krieg, den wir der Bourgeoisie erklärt haben, verlangen wir kein Mitleid. Wir geben den Tod, und wir wissen ihn zu ertragen.“ Es wird sich hier auf Emile Henry bezogen der diesen Satz in seiner Prozesserklärung verwendet hat. Knapp einen Monat danach wurde er mit 21 Jahren am 24. Mai 1884 vom Scharfrichter mit einem Fallbeil geköpft. Die Autoren von dem Text „Der beste Angriff ist nicht die Verteidigung“ haben den ursprünglichen Satz als Anspielung umformuliert.
5 Venaus ist ein Dorf was an der Grenze zwischen Frankreich in Italien liegt. Es ist Drehangelpunkt im No-Tav (Bürger-)Kampf gegen den Hochgeschwindigkeitszug, der Italien mit Frankreich verbinden soll. Gewisse Bewegungsmanager und Gruppierungen sahen in diesem weitgefächerten Kampf ein großes aufständisches Potenzial. Daher der Vergleich mit der Pariser Kommune.