#0 – Für mehr fröhliche Tollkühnheit

Wenn der Ausgangspunkt der Sturz der Herrschenden und jeder Herrschaft ist, dann ist das ein Anspruch, der die Gesamtheit und das Ausmaß des herrschenden Systems umfassen muss. Der Kampf gegen die Herrschaft ist ein „totaler“ Kampf. Teilkämpfe, die nicht die Gesamtheit der Ausbeutung und Zerstörung der Erde umfassen, sind zur Stagnation verurteilt. Die selbstbeschränkten Ziele eines Teilkampfes werden zu Grenzen, blind und taub agiert man im Schatten eines viel weiteren Horizonts. Denn ja! Wir wollen mehr, viel mehr. Aber wir sind gewiss keine Bewegungsmanager oder Prediger eines ideologischen Anarchismus. Die Notwendigkeit der Zerstörung aller Zwangsverhältnisse beruht eben auf der Zerstörung, sei sie greifbar oder metaphysisch. Aber für die vielen wilden Kreaturen (lateinisch creatura, „Geschöpf“, von creare, „schaffen“, „erschaffen“, „schöpfen“), die jede Autorität ablehnen, ist die Zerstörung auch ein Moment der Schöpfung. Sich den Raum und die Zeit zum Handeln zu nehmen bedeutet, beides anders auszufüllen und zu verwenden. Auf dem Weg zur Zerstörung richten wir unsere Gedanken und Energien oft darauf, wie wir unser Ziel am effektivsten erreichen können, denn weder Zeit noch Raum sind unbegrenzt. Der vorherrschende „gesunde Menschenverstand“, die Logik, zieht daraus die Schlussfolgerung. So entsteht das Streben nach Effizienz bei der Umsetzung unserer Vorhaben. Der Grad der Zielerreichung oder, anders ausgedrückt der Effizienz kann sich aus dem Vergleich des Ist-Wertes mit dem geplanten Soll-Wert ergeben. Dieser scheinbar logische Gedanke unterliegt einer mathematischen Formel. Dieses Kalkül ist jedoch ein Mythos der Verwaltung. Es zeigt die „effizienteste“ Taktik auf, für die Führung von Menschen, von Produktionsmitteln oder von Bürokratie, und sehr wohl auch von der Politik. Aber ist nicht gerade die Verwaltung und die Ordnung, die sie prägt, das Problem? Warum sollten wir auf der einen Seite jede Herrschaft und ihre Effektivität (die wir ja kritisieren) angreifen, zerstören, um sie durch eine andere, aber immer noch effizienzorientierte Grundhaltung zu ersetzen? Es sind doch unsere Kämpfe, die in ihren grundsätzlichen Inhalten und Perspektiven etwas anderes vorschlagen wollen und in der Aktion zum Ausdruck bringen.

Die Meinung der Anderen ist eine der großen metaphysischen Hürden, auf die wir stoßen, sobald wir uns ans Tageslicht, auf die Straßen und Plätze begeben. Dort stehen wir dann, losgelöst vom Wohlfühlplenum, den mit politischen Plakaten tapezierten Wänden, auf etwas unsicheren Beinen, denn es könnte ja jemand unbequeme Fragen stellen. Es gibt nur uns, mit unseren fragwürdigen und unvollständigen Ideen, die im Gespräch mit anderen Mitmenschen nur zaghaft und unsicher rüberkommen. Vielleicht, weil viele es nie gewohnt waren, Inhalte, Positionen, Ideen und Vorschläge ohne Umschweife und glasklar in eigene Worte zu fassen und ohne Scham darüber zu sprechen. Sicherlich eine gymnastische Übung, aber eben nur eine von vielen.

Aber die Meinung der Anderen ist ein Problem, das uns häufiger begegnet, als wenn wir Flyer auf der Straße verteilen. Denn es ist unsere subjektive Meinung über die Meinung der Anderen, die uns an unseren Ideen und Taten zweifeln lässt. Berechtigte Fragen tauchen auf: Verstehen uns „die Leute“? Sollten wir nicht „einfacher“ schreiben? Vielleicht sollten wir den schwarzen Kapuzenpulli gegen ein nettes Hemd eintauschen? Die Verwässerung der Ideen lauert ständig um die Ecke, und in der Konsequenz verstellen wir uns, um zugänglicher, also effizienter zu sein. Der „einfachere“ Weg soll gewährleisten, dass wir uns mit unseren Ideen weniger allein fühlen. Der größte Alptraum für viele in jeder Bewegung scheint die „politische“ Einsamkeit zu sein. Isoliert zu sein oder sich so zu fühlen, ist gleichbedeutend mit Nichtexistenz und kann dazu führen, den Aktivismus an den Nagel zu hängen und fortan resigniert durchs Leben zu gehen.

Auch in „militanten“ Kreisen geht von der Effizienzspirale eine Gefahr aus. Sie äußert sich nicht unbedingt in Resignation, sondern eher in der Frage der Vermittelbarkeit von Aktionen. Daraus resultiert häufig eine Art Hierarchisierung, bei der zwischen „gut vermittelbaren“ und eher „schlecht vermittelbaren“ Aktionen unterschieden wird. Einem Fascho die Kniescheiben zu zertrümmern, ist heute gerade noch akzeptabel, ihn am Strick baumeln zu lassen, würde vermutlich auf weniger Verständnis stoßen, auch wenn es in der „glorreichen“ Geschichte des Antifaschismus immer wieder vorgekommen ist. Nun aber ohne metaphorische Anspielungen: In Frankreich werden jedes Jahr Hunderte von Funkmasten als auch Glasfaserkabel und Strommasten sabotiert, anonym oder nicht. Tendenz steigend. Wie jede Sabotage ist ihre Wirkung zeitlich begrenzt, bis zur Reparatur, das steht außer Frage, aber die Tatsache der zukünftigen Wiederinstandsetzung kann kein Grund sein, die Sabotage nicht zu begehen. In der BRD können solche Aktionsformen vermutlich zu einem großen gesellschaftlichen Aufschrei führen und wahrscheinlich würden sich auch Teile einer radikalen Linken diesem Aufschrei anschließen. Was würde das aber für die Menschen bedeuten, die aus ihrer Analyse heraus solche Sabotagen begehen oder begehen wollen? Handeln sie etwa nicht, weil keine unmittelbare Vermittelbarkeit gegeben ist?

Der Wert solcher Aktionen liegt nicht allein in ihrem Ausdruck, also dem Ergebnis einer Handlung, sondern auch in der Motivation durch die Wahl der Aktionsform und des Ziels selbst. Der Wert liegt auch in der Qualität, einen Bruch mit dem Status Quo erzeugen zu wollen, ohne auf die Massen, den Konsens oder die breite Zustimmung warten zu wollen. Letztendlich stellt sich die Frage: Wie entscheiden wir, was, wann, wie „kommunizierbar“ ist? Wie können wir das feststellen?

Wir haben kein soziales Barometer. Wir haben nur unsere Debatten und Analysen, in denen wir diskutieren, was, wie und warum getan werden könnte. Das ist der eigentliche Wert, die Qualität. Was wäre die langfristige Perspektive von wahllosem Vandalismus? Es mag übertrieben klingen, aber Farbkleckse auf einer Fensterscheibe, und sei es die des Bundeskanzleramtes, sind in Form und Ausdruck eine belanglose Drohgebärde, die nicht die Lust und den Willen zur Zerstörung in sich trägt. Wir können es uns nicht leisten, den Herrschenden, mit denen wir uns in einem sozialen Krieg befinden, nur zu drohen oder einzuschüchtern und uns mit der etwaigen Genugtuung abfinden. Niemand erzeugt somit eine Bedrohung, die als faktische Gefahr für die herrschende Ordnung fassbar ist. Die Meinung der Anderen und die Angst vor ihr, die uns dazu bringen könnte, uns für die Farbeier zu entscheiden, ist genau in diesem Moment zu einem Hindernis für eine mögliche breitere Perspektive geworden. Wenn wir uns zum Ziel setzen, einen Angriff zu starten, aber bestimmte Aktionen und Mittel a priori ausschließen, weil wir das Ausmaß der vermuteten Repression (die Meinung der Bullen/Richter) und der „Unvorhersehbarkeit“ (die Meinung der Gesellschaft) zu beunruhigend finden, und unsere Aktion diesem Maßstab anpassen, macht uns das zu Strategen oder zu Revolutionären? Eher zu ersteren.

Nicht, dass Revolutionäre (nur) aus Waghalsigkeit und Sturheit handeln, aber vielleicht könnte die Messlatte etwas unabhängiger von Faktoren gesetzt werden, die wir ohnehin nie wirklich objektiv einschätzen können. Das ständige Taktieren kann zu einer abwartenden Haltung führen, die nicht zur Befeuerung von Kämpfen führt. Wir brauchen mehr freudige Tollkühnheit statt einen straffen Fahrplan, und wir sollten uns selbst und andere dazu anstacheln, anstatt immer alles zu rationalisieren.