#0 – Für mehr fröhliche Tollkühnheit

Wenn der Ausgangspunkt der Sturz der Herrschenden und jeder Herrschaft ist, dann ist das ein Anspruch, der die Gesamtheit und das Ausmaß des herrschenden Systems umfassen muss. Der Kampf gegen die Herrschaft ist ein „totaler“ Kampf. Teilkämpfe, die nicht die Gesamtheit der Ausbeutung und Zerstörung der Erde umfassen, sind zur Stagnation verurteilt. Die selbstbeschränkten Ziele eines Teilkampfes werden zu Grenzen, blind und taub agiert man im Schatten eines viel weiteren Horizonts. Denn ja! Wir wollen mehr, viel mehr. Aber wir sind gewiss keine Bewegungsmanager oder Prediger eines ideologischen Anarchismus. Die Notwendigkeit der Zerstörung aller Zwangsverhältnisse beruht eben auf der Zerstörung, sei sie greifbar oder metaphysisch. Aber für die vielen wilden Kreaturen (lateinisch creatura, „Geschöpf“, von creare, „schaffen“, „erschaffen“, „schöpfen“), die jede Autorität ablehnen, ist die Zerstörung auch ein Moment der Schöpfung. Sich den Raum und die Zeit zum Handeln zu nehmen bedeutet, beides anders auszufüllen und zu verwenden. Auf dem Weg zur Zerstörung richten wir unsere Gedanken und Energien oft darauf, wie wir unser Ziel am effektivsten erreichen können, denn weder Zeit noch Raum sind unbegrenzt. Der vorherrschende „gesunde Menschenverstand“, die Logik, zieht daraus die Schlussfolgerung. So entsteht das Streben nach Effizienz bei der Umsetzung unserer Vorhaben. Der Grad der Zielerreichung oder, anders ausgedrückt der Effizienz kann sich aus dem Vergleich des Ist-Wertes mit dem geplanten Soll-Wert ergeben. Dieser scheinbar logische Gedanke unterliegt einer mathematischen Formel. Dieses Kalkül ist jedoch ein Mythos der Verwaltung. Es zeigt die „effizienteste“ Taktik auf, für die Führung von Menschen, von Produktionsmitteln oder von Bürokratie, und sehr wohl auch von der Politik. Aber ist nicht gerade die Verwaltung und die Ordnung, die sie prägt, das Problem? Warum sollten wir auf der einen Seite jede Herrschaft und ihre Effektivität (die wir ja kritisieren) angreifen, zerstören, um sie durch eine andere, aber immer noch effizienzorientierte Grundhaltung zu ersetzen? Es sind doch unsere Kämpfe, die in ihren grundsätzlichen Inhalten und Perspektiven etwas anderes vorschlagen wollen und in der Aktion zum Ausdruck bringen.

Die Meinung der Anderen ist eine der großen metaphysischen Hürden, auf die wir stoßen, sobald wir uns ans Tageslicht, auf die Straßen und Plätze begeben. Dort stehen wir dann, losgelöst vom Wohlfühlplenum, den mit politischen Plakaten tapezierten Wänden, auf etwas unsicheren Beinen, denn es könnte ja jemand unbequeme Fragen stellen. Es gibt nur uns, mit unseren fragwürdigen und unvollständigen Ideen, die im Gespräch mit anderen Mitmenschen nur zaghaft und unsicher rüberkommen. Vielleicht, weil viele es nie gewohnt waren, Inhalte, Positionen, Ideen und Vorschläge ohne Umschweife und glasklar in eigene Worte zu fassen und ohne Scham darüber zu sprechen. Sicherlich eine gymnastische Übung, aber eben nur eine von vielen.

Aber die Meinung der Anderen ist ein Problem, das uns häufiger begegnet, als wenn wir Flyer auf der Straße verteilen. Denn es ist unsere subjektive Meinung über die Meinung der Anderen, die uns an unseren Ideen und Taten zweifeln lässt. Berechtigte Fragen tauchen auf: Verstehen uns „die Leute“? Sollten wir nicht „einfacher“ schreiben? Vielleicht sollten wir den schwarzen Kapuzenpulli gegen ein nettes Hemd eintauschen? Die Verwässerung der Ideen lauert ständig um die Ecke, und in der Konsequenz verstellen wir uns, um zugänglicher, also effizienter zu sein. Der „einfachere“ Weg soll gewährleisten, dass wir uns mit unseren Ideen weniger allein fühlen. Der größte Alptraum für viele in jeder Bewegung scheint die „politische“ Einsamkeit zu sein. Isoliert zu sein oder sich so zu fühlen, ist gleichbedeutend mit Nichtexistenz und kann dazu führen, den Aktivismus an den Nagel zu hängen und fortan resigniert durchs Leben zu gehen.

Auch in „militanten“ Kreisen geht von der Effizienzspirale eine Gefahr aus. Sie äußert sich nicht unbedingt in Resignation, sondern eher in der Frage der Vermittelbarkeit von Aktionen. Daraus resultiert häufig eine Art Hierarchisierung, bei der zwischen „gut vermittelbaren“ und eher „schlecht vermittelbaren“ Aktionen unterschieden wird. Einem Fascho die Kniescheiben zu zertrümmern, ist heute gerade noch akzeptabel, ihn am Strick baumeln zu lassen, würde vermutlich auf weniger Verständnis stoßen, auch wenn es in der „glorreichen“ Geschichte des Antifaschismus immer wieder vorgekommen ist. Nun aber ohne metaphorische Anspielungen: In Frankreich werden jedes Jahr Hunderte von Funkmasten als auch Glasfaserkabel und Strommasten sabotiert, anonym oder nicht. Tendenz steigend. Wie jede Sabotage ist ihre Wirkung zeitlich begrenzt, bis zur Reparatur, das steht außer Frage, aber die Tatsache der zukünftigen Wiederinstandsetzung kann kein Grund sein, die Sabotage nicht zu begehen. In der BRD können solche Aktionsformen vermutlich zu einem großen gesellschaftlichen Aufschrei führen und wahrscheinlich würden sich auch Teile einer radikalen Linken diesem Aufschrei anschließen. Was würde das aber für die Menschen bedeuten, die aus ihrer Analyse heraus solche Sabotagen begehen oder begehen wollen? Handeln sie etwa nicht, weil keine unmittelbare Vermittelbarkeit gegeben ist?

Der Wert solcher Aktionen liegt nicht allein in ihrem Ausdruck, also dem Ergebnis einer Handlung, sondern auch in der Motivation durch die Wahl der Aktionsform und des Ziels selbst. Der Wert liegt auch in der Qualität, einen Bruch mit dem Status Quo erzeugen zu wollen, ohne auf die Massen, den Konsens oder die breite Zustimmung warten zu wollen. Letztendlich stellt sich die Frage: Wie entscheiden wir, was, wann, wie „kommunizierbar“ ist? Wie können wir das feststellen?

Wir haben kein soziales Barometer. Wir haben nur unsere Debatten und Analysen, in denen wir diskutieren, was, wie und warum getan werden könnte. Das ist der eigentliche Wert, die Qualität. Was wäre die langfristige Perspektive von wahllosem Vandalismus? Es mag übertrieben klingen, aber Farbkleckse auf einer Fensterscheibe, und sei es die des Bundeskanzleramtes, sind in Form und Ausdruck eine belanglose Drohgebärde, die nicht die Lust und den Willen zur Zerstörung in sich trägt. Wir können es uns nicht leisten, den Herrschenden, mit denen wir uns in einem sozialen Krieg befinden, nur zu drohen oder einzuschüchtern und uns mit der etwaigen Genugtuung abfinden. Niemand erzeugt somit eine Bedrohung, die als faktische Gefahr für die herrschende Ordnung fassbar ist. Die Meinung der Anderen und die Angst vor ihr, die uns dazu bringen könnte, uns für die Farbeier zu entscheiden, ist genau in diesem Moment zu einem Hindernis für eine mögliche breitere Perspektive geworden. Wenn wir uns zum Ziel setzen, einen Angriff zu starten, aber bestimmte Aktionen und Mittel a priori ausschließen, weil wir das Ausmaß der vermuteten Repression (die Meinung der Bullen/Richter) und der „Unvorhersehbarkeit“ (die Meinung der Gesellschaft) zu beunruhigend finden, und unsere Aktion diesem Maßstab anpassen, macht uns das zu Strategen oder zu Revolutionären? Eher zu ersteren.

Nicht, dass Revolutionäre (nur) aus Waghalsigkeit und Sturheit handeln, aber vielleicht könnte die Messlatte etwas unabhängiger von Faktoren gesetzt werden, die wir ohnehin nie wirklich objektiv einschätzen können. Das ständige Taktieren kann zu einer abwartenden Haltung führen, die nicht zur Befeuerung von Kämpfen führt. Wir brauchen mehr freudige Tollkühnheit statt einen straffen Fahrplan, und wir sollten uns selbst und andere dazu anstacheln, anstatt immer alles zu rationalisieren.

#0 – Ein entschlossener Kampf gegen die industrielle Zerstörung der Erde

Die Beherrschung der Natur

Der Mensch steht außerhalb und über der Natur, dazu ausersehen, über sie zu herrschen – diesen Blickwinkel auf die Welt lehrte uns die Bibel und das Christentum mit ihrem „mach dir die Erde Untertan“. Einen wissenschaftlichen Antlitz verschaffte dieser Ideologie die Aufklärung und ihre Wissenschaft, welche die Idee fortführte, dass der Mensch natürlicher „Besitzer und Beherrscher der Erde“ (Descartes) sei. Dieser Idee, dass die Erde dazu da sei vom Menschen unterworfen zu werden, war eine nötige Voraussetzung für die darauf folgende und sich stetig intensivierende Naturzerstörung, die Ausbeutung von Rohstoffen und Tieren, Vergiftung von Böden und Meeren, für Kriege gegen „die wilde Natur“ und „wilde Naturvölker“, für Kolonialismus und Genozide. Diese Idee, dass das höchste Ziel stets der „Fortschritt“ und der „Wachstum“ sei, hat es geschafft die Menschheitsgeschichte in einem bizarren Ausmaß zu beschleunigen, so dass es einem heutzutage schwer fällt zu verstehen, wie erheblich die Zerstörung ist, die der Mensch auf dem Planeten hinterlassen hat. Diese Idee, dass der Mensch über allem anderen Lebenden steht und die Rechtfertigung hat, alles andere Lebendige auf dem Planeten bis aufs letzte auszubeuten, hat uns an den Punkt gebracht, an dem wir heute sind: Mitten in einer Natur- und Klimakatastrophe, die das Überleben auf der Erde erschüttert, verändert und für viele unmöglich machen wird.

Das System der Zerstörung

Der industrielle Kapitalismus hat den kompletten Globus kolonialisiert und ist das Netz, welches den ganzen Planeten umspannt und gefangen hält: Es gibt keine lokalen Probleme mehr – jedes Produkt auf dem Markt verbindet Menschen auf unterschiedlichen Weltteilen und an unterschiedlichen Orten der Produktionskette, jedes T-Shirt ist mit der Landnahme und der Vernichtung von Regenwald verbunden, mit der Macht der Agrarindustrie und den Auswirkungen von Düngemitteln, Pestiziden und anderen Chemikalien auf Flüsse und Grundwasser, dem Kollaps der Insektenpopulationen, mit globalen Ausbeutungsnetzwerken und Sweatshops, endlos wuchernden Slums, mit Kindern und Teenagern, die sich mit Akkordarbeit in gefährlichen Fabriken die Gesundheit ruinieren, mit Büros mit Panoramablick und Schweizer Bankkonten, mit Containerschiffen, die mit Schweröl angetrieben werden, Shoppingmalls und unendlichen Müllhalden, auf denen 80 Prozent der Fastfashion landet. Jeder Stofffetzen ist Teil eines globalen Netzwerkes des Profits und der Ausbeutung, der Abholzung und Zerstörung. Das beständige Streben des Kapitalismus zu wachsen und somit alle circa alle 25 Jahre seine Wirtschaftsleistung zu verdoppeln, hat uns an den jetzigen Punkt gebracht: Der Rohstoffverbrauch des Kapitalismus ist einerseits so groß geworden, dass er nicht mehr gestillt werden kann und andererseits ist die dadurch entstandene Zerstörung und Verschmutzung so verheerend, dass wir inmitten einer Katastrophe stecken in Folge welcher das industrielle System sämtliche Lebensgrundlagen langfristig zu zerstören droht.

Der Angriff des grünen Kapitalismus

Im Angesicht der durch ihn selbst hervorgerufenen verheerenden Naturzerstörung läutet derselbe Kapitalismus eine „grüne“ Zeitenwende ein – eine zynische und bizarre Antwort auf die andauernde verheerende Zerstörung. Er wirft sich in besorgte Schale und nennt sich fortan „klima- und CO2-neutral“ und hält gleichzeitig an dem immer gleichen industriellen Fortschritt und Wachstum fest. Eine neue Krise des Kapitalismus und die immer gleiche kapitalistische Lösung: Wirtschaftlicher Wachstum und technologische Innovation. Auch diesmal geht es darum neue Energiequellen auszubeuten, neue Infrastrukturen auszubauen, neue Produkte anzuwerben und neue Märkte zu erschließen – nur ist dieses mal alles elektronisch, digital, „nachhaltig“, „grün“, und „klimaneutralneutral“. Doch der grüne Kapitalismus und dessen neue Innovationen und Infrastrukturen sind die immer gleiche Fortführung der andauernden Ausbeutung der Natur: neue giftige Minen und Landnahme von Indigenen, Erschließung neuer Energiequellen auf Kosten von Natur und Mensch, Pipelines in jeder Himmelsrichtung, toxische Müllhalden… auch der Kapitalismus der E-Autos und Ökozertifikate hinterlässt nur abgeholzte Wälder, ausgelaugte Böden, überfischte Meere, ausgerottete Tiere, zerstörte Lebensräume, Verarmung, Elend und Krieg.

Alte Muster – neue Infrastruktur

Momentan baut Europa beispielsweise massiv seine Wasserstoff-, Gas-, Minen- und Windradinfrastruktur aus: Der Wasserstoff soll aus umkämpften Gebieten der indigenen Mapuche in Argentinien und Chile kommen, sowie aus Norwegen, welches diesen mit toxischem Erdgas fördert und letztlich auch aus einigen afrikanischen Ländern wie z.B. aus Namibia, der ehemaligen deutschen Kolonie, welche bald im großen Stil „grünen“ Wasserstoff liefern soll. Für die Wasserstoffinfrastruktur werden neue Pipelines in der Nordsee gebaut, als auch zwischen Spanien und Frankreich. In der Nordsee soll ebenfalls nach Gas gebohrt werden – zudem will Deutschland Gas im Atlantik vor dem Senegal fördern, wogegen Einheimische angesichts der drohenden Naturzerstörung und ausbleibenden Fischfänge protestieren. Gleichzeitig gibt es dank den blitzschnell fertiggestellten LNG-Terminals in der Nordsee massig Fracking-Gas-Lieferungen aus den USA – die Proteste der Anwohner:innen auf Rügen gegen die scheußlichen Terminals samt der neuen LNG-Pipeline sowie die Stimmen, die vor dem drohenden Aussterben des Schweinswals mahnten, wurden beim Bau einhellig überhört. Zu guter Letzt sollen 13.000 neue Windräder in Deutschland gebaut werden, welche zwei Prozent der gesamten Landesfläche bedecken sollen. Der Bau dieser Windräder wird insgesamt aus 1,8 Millionen Tonnen Kupfer (aus Peru und Chile), 95 Millionen Tonnen Zement und 30 Millionen Tonnen Stahl, sowie Eisenerz (aus Brasilien), Silber (aus Mexiko und Argentinien), Bauxit (aus Guinea) sowie Seltenen Erden (aus China) bestehen. Außerdem sollen etliche Offshore-Windfabriken in der Nordsee gebaut werden, deren Infrastruktur eine neue europäische „Stromautobahn“ bilden soll. In der EU gären darüber hinaus weitere irrwitzige Pläne wie z.B. eine unfassbar riesige Fläche Nord-Schwedens (im Gebiet der indigenen Sami, die bereits gegen riesige Windparks deutscher und schweizer Firmen in Norwegen kämpfen) in die größte Mine für Seltene Erden zu verwandeln…oder diverse Lithium-Minen in Frankreich und Portugal zu eröffnen oder Lithium aus dem Rhein zu gewinnen…

Die Absurdität des grünen Kapitalismus entblößen gleichzeitig Vorstöße wie der Vorschlag konzentrierten und hochgiftigen CO2-Müll in der Nordsee zu versenken (Habeck) oder Atomkraftwerke angesichts niedrigerer Emissionen weiterzubetreiben oder neue zu bauen (Thunberg). Um den Energiehunger des grünen Kapitalismus auszuweiten, wird das Netz der Zerstörung unaufhörlich ausgeweitet – und egal ob sich der Kapitalismus grün nennt oder nicht, er beruht immer auf Extraktivismus, Kolonialismus und Ausbeutung, auf Minen, Fabriken, Konsumtempeln und technologisch-militärischer Aufrüstung.

Alles anders!

Wir schlagen einen Bruch mit der dominanten religiös-wissenschaftlichen Ideologie vor, welche immer neue Rechtfertigungen und Pseudo-Lösungen für die Beherrschung und Zerstörung der Natur vorbringt. Es ist an der Zeit mit der ganzen christlichen Tradition der Kolonisierung und des Genozids zu brechen und die Idee, dass uns dieses industrielle System Fortschritt und Glück bringen würde, auf dem Müllhaufen der Geschichte verschwinden zu lassen. Innerhalb von weniger als fünf Generationen hat es der industrielle Kapitalismus geschafft, das komplette Überleben der Mensch- und Tierwelt zu bedrohen. Innerhalb nur eines Jahrhunderts hat uns die Technologie und die Fortschrittsideologien unterschiedlichster politischer Couleur Elektrifizierung, Urbanisierung, Massenvernichtungswaffen, industriellen Massenmord, Atombomben, Internet, Smartphones, Quantencomputer und Gen-Editing beschert. Das worauf wir zuschlittern, ist keine Naturkatastrophe, sondern eine soziale Katastrophe – ein gesellschaftliches System, dass mittels eines globalen industriellen Systems dabei ist, alle Lebensgrundlagen zu zerstören. Diese Katastrophe spielt sich minütlich ab: Pro Minute werden 30 Felder Regenwald gerodet, in der selben Zeit schmelzen eine Millionen Tonnen Grönlandeis. Gleichzeitig steigt der Energiebedarf der Ökonomie. Und sekündlich klingeln die Kassen der Aktionäre. Diese soziale Katastrophe, diese Ökonomie der Zerstörung hat klare Profiteure und Verantwortliche – sie geht auf Kosten der Armen und Marginaliserten – während die Agrar- und Fleischindustrie, welche den Regenwald abholzt; die Öl- und Chemieindustrie, welche die Meere und die Böden vergiftt; während Monsanto-Bayer, welche mit ihren Pestiziden 60 Prozent des Insektensterbens verantwortlich sind; während die Technologie- und Autoindustrie und die Energieriesen und Energiefirmen; die Minenbetreiber, die Industriellen und Banken und viele weitere weiterhin fette Profite abschöpfen…

Wir sind keine Apokalyptiker:innen, die angesichts einer drohenden Katastrophe die Hoffnung auf ein neues Himmelreich schüren. Tatsächlich sind wir ziemlich verzweifelt. Aber Verzweiflung kann auch entschlossen machen. Auch inspirieren uns die überall auflodernden Initiativen und Kämpfe gegen die voranschreitende Zerstörung. Wir denken an Lützerath und die Vielfältigkeit von Aktionen, die in ihrer Ablehnung der monströsen Mine geeint waren. Uns kommen all die feurigen Angriffe in den Sinn, welche sich mit diesem Kampf solidarisiert haben. Wir denken an die neue Generation von Klimaaktivist:innen, deren Reformismus uns zwar teils naiv erscheint, die wir nichtsdestotrotz für ihre Entschlossenheit wertschätzen. Wir hören und lesen von den indigenen Wet‘suwet‘en im kanadischen British Colombia, die seit Generationen gegen Infrastrukturprojekte des kolonialen Staates und für die Verhinderung des Baus von Gaspipelines kämpfen – genauso wie an die rebellischen Gemeinschaften der Mapuche, die im Süden Chiles und Argentiniens seit Jahrhunderten für ihre Autonomie und auch gegen Wind- und Wasserstoffparks der Kolonisierer:innen kämpfen. Auch kommen uns die hunderten Angriffe auf Antennen und Glasfaserkabel in Frankreich in den Sinn, die den stetigem Ausbau des technologischen Netzes behindern, als auch der reichhaltigen Erfahrungsschatz aus vergangenen Kämpfen gegen die Atomindustrie, in welchen sich vielfältige Formen von Ungehorsam, Solidarität und Sabotage ergänzt haben. All das und noch viel mehr schwebt uns durch den Kopf, wenn wir sagen, dass wir gewillt sind entschlossener denn je diese globale kapitalistische Industrie zum Stillstand zu bringen, die nichts als Leid und Zerstörung bringt. Und das mit selbstbestimmten, offensiven und kreativen Mitteln, deren Vielfältigkeit grenzenlos ist – ebenso wie die möglichen Kämpfe gegen das industrielle System der Zerstörung.

Genauso wie wir die totale Idee der Unterwerfung der Natur ablehnen, haben wir kein allumfassendes Konzept im Ärmel, wie alles anders aussehen soll. Vielleicht liegt das Problem auch darin, einzelne Lösungen und Ideologien zu suchen und ihnen auf den Thron zu verhelfen, anstatt abertausende selbstständige und selbstbestimmte Lösungen nebeneinander zu schaffen, die sich gegenseitig wertschätzen und frei kommunizieren können, anstatt sich zu bekriegen, zu unterwerfen und auszubeuten.

Für eine Welt in der wir in Harmonie

und als Teil der Natur leben.

Legen wir die Industrie der Zerstörung lahm.

#0 – Die Frage der sozialen Revolution mit der Frage der Ökologie zu verknüpfen

Sonntagnacht, elfter Dezember, irgendwo in Frankreich: Irgendwo in Frankreich? Nein, nicht irgendwo, irgendwo zwischen Paris und Fessenheim. Dort begeben sich mehrere Individuen auf einen Mast einer 400.000 Volt Hochspannungsleitung. Sie sind nicht gekommen, um die Aussicht zu bewundern, nein, sie haben ein klare Absicht: Sie wollen „die Kämpfe fortsetzen, für die unsere GefährtInnen hinter Gittern sind“, denn dies sei „die leidenschaftlichste Form der revolutionären Solidarität.“

Was soll das heißen? Ganz einfach – sie machten sich daran, die den Koloss stabilisierenden Bolzen abzuschrauben. „Der Mast steht zwar noch, aber seine Statik ist eindeutig gefährdet. Möge unsere revolutionäre Wut im Bündnis mit der Natur wirken und ein Wintersturm den Rest erledigen!“ Die betreffende Stromleitung wird in Zukunft das Industrieprojekt CIGÉO mit Strom versorgen. CIGÉO? Centre industriel de stockage géologique pour les déchets HA et MA-VL, zu deutsch: umkehrbares geologisches Endlager für radioaktiven Abfall in den Départements Meuse und Haute-Marne; ergo: ein Atommüll-Endlager. In Bure. Ab 2025 soll dort in einem Tunnelsystem auf einer Fläche von 30 Quadratkilometern Atommüll lagern. Und zwar die nächsten 100.000 Jahre. Bis jetzt hat Frankreich nur zwei Orte zur Lagerung von schwach- und mittelradioaktivem Abfall, der Rest des verseuchten Mülls der 56 französischen AKWs lagert in der Wiederaufbereitungsanlage La Hague. Direkt neben dem atomaren Endlager in Bure, plant der Netzbetreiber RTE ein Umspannwerk mit der Fläche von 20 Fußballfeldern, um den „Energiehunger des Atommonsters“ zu stillen. Nun gut, eine Sabotage also. Aus Solidarität… mit wem? Mit dem sich damals im Hungerstreik befindlichen Alfredo Cospito. Lassen wir die Saboteure selbst zu Wort kommen: „Alfredo hat es immer verstanden, die Frage der sozialen Revolution mit der Frage der Ökologie zu verknüpfen und durch seine Worte und Taten die ökozidale Plünderung unseres Planeten mit dem Kampf gegen die herrschenden Mächte, gegen Ausbeutung und Unterdrückung in Verbindung zu bringen. In seiner Erklärung zum Schuss ins Knie des italienischen Atomindustrieführers Roberto Adinolfi (ansaldo nucleare; 2012) und später in verschiedenen Prozesserklärungen beschrieb er die Notwendigkeit, eine revolutionäre Perspektive in der Anti-Atomkraft-Bewegung zu verankern. In einem wertvollen Beitrag zur Debatte äußerte er sich 2018 auch zum Kampf gegen das CIGÉO-Projekt zur Lagerung von Atommüll in dem französischen Dorf Bure im Département Meuse. Unter Bezugnahme auf die dort praktizierte Idee der Vielfalt der Taktiken schlug er dort eine Intensivierung der gewählten Kampfformen vor.“

Aha, eine Intensivierung der Kampfformen also…

Mit einer Intensivierung der Kampfformen sah sich eine Woche später auch ein anderes industrielles Monstrum konfrontiert. Aber beginnen wir von vorne: 18. Dezember, die vorweihnachtliche Ruhe der Adventszeit im Süden Frankreichs wird jäh unterbrochen: ein oder mehrere TäterInnen setzen zwei elektrische Hochspannungsanlagen um vier Uhr Nachts in der Region von Marseille in Brand. Die zwei Masten stehen nur wenige Meter voneinander entfernt. Und dann? Der eine Brand führte zu einer kurzen Unterbrechung der Stromversorgung der umliegenden Gemeinden. Der andere hingegen führte zur Unterbrechung der Stromversorgung in einem Teil des Flughafens Marseille-Marignane, wie der Netzbetreiber RTE berichtete, weswegen die Notstromversorgung den Betrieb übernehmen musste. Eine Polizeiquelle berichtet: „Zwei Masten von Enedis-Hochspannungsleitungen wurden an der Ecke des Boulevard Marcel Pagnol und der Départementale D9 in Vitrolles an diesem Montag in Brand gesetzt. Die erste bedient den Flughafen Marseille-Provence und das Unternehmen Airbus Helicopters.“ Ein Flughafen und ein Unternehmen, das militärisch und polizeilich genutzte Helikopter herstellt also. Zwei Industriesparten mit einem riesigen Energiehunger… Eventuell ein weiterer Versuch „die Frage der sozialen Revolution mit der Frage der Ökologie zu verknüpfen und durch Worte und Taten die ökozidale Plünderung unseres Planeten mit dem Kampf gegen die herrschenden Mächte, gegen Ausbeutung und Unterdrückung in Verbindung zu bringen.“

Doch nicht genug damit: Nur zwei Tage später erstattet der französische Netzbetreiber RTE Anzeige auf Grund einer weiteren Sabotage. Ebenfalls zwischen dem 17. und 18. Dezember wurde ein Strommast in der Gemeinde Saint-Just-et-Vacquières in der Nähe von Alès, ebenfalls im Süden Frankreichs, angesägt – „zum Glück ist er nicht umgefallen, sonst wären die Folgen sehr weitreichend gewesen, denn der Mast dieser Hochspannungsleitung wäre auf einen benachbarten Mast gefallen und hätte einen Dominoeffekt auslösen können“, wie ein Staatsanwalt berichtet. Der stellvertretende Bürgermeister pflichtet bei: „Ich bin sehr besorgt über die Radikalität, mit der gegen lebenswichtige Interessen vorgegangen wird, natürlich gegen die Industrie, aber nicht nur. Wenn die Personen, die diese Taten begangen haben, wüssten, was wir in Salindres tun, würden sie sehen, dass es sich um Katalysatoren handelt, die es ermöglichen, die Umwelt zu entlasten.“ In Salindres? Achso, die Medien und der Bürgermeister wissen, dass „das anvisierte Ziel der etwa zehn Kilometer entfernte Chemiestandort „Salindres“ war. Was passiert denn in Salindres? In dem Chemiepark stellt die vom Ölriesen Total Oil gegründete Firma Arkema beispielsweise petrochemische Erzeugnisse wie PVC her. Die Gemüter sind sich bei der vom Vize-Bürgermeister aufgeworfenen Behauptung, dass „wir die Umwelt alle zusammen schützen und nicht gegeneinander“ beim Anblick dieses Öl-und Plastikgiganten anscheinend uneins. Die Medien meinen, die Tat würde von „Umweltaktivisten“ beansprucht… Interessant, aber lesen wir das Schreiben selbst: „Wir haben den 225.000-Volt-Mast an der Hauptleitung sabotiert, die das chemisch-industrielle Zentrum Salindres (Unternehmen Arkema und andere) mit Strom versorgt. Methode : 1) Sägt die Querbalken ab. Anmerkung: Das sind die Stäbe, die die Beine miteinander verbinden. 2) Sägt mit schrägen Schnitten an beiden Füßen in Fallrichtung. Hinweis: Der Mast muss senkrecht zu den Kabeln fallen. 3) Sägt mit geraden Schnitten an denselben Füßen etwa 30 cm über den vorherigen Schnitten. Hinweis: Sägen Sie bis zum Ende, um ein vollständig abtrennbares Stück zu erhalten. 4) Rammt die abgesägten Stücke, die durch die Schwerkraft des Masts noch an Ort und Stelle gehalten werden, mit einem Rammbock. Anmerkung: Ein kleiner Baumstamm kann verwendet werden. 5) Während der Mast fällt, entfernt euch mit kleinen Schritten in die entgegengesetzte Richtung. Anmerkung: Metallsägen und Öl reichen für diese Aktion aus. Greifen wir die Konzerne an, die die Erde vergiften! (…) Stärke den kämpfenden Individuen in Frankreich, Deutschland und anderswo. Wenn die Ziele zu gut geschützt sind, kann man beim Angriff auf das Stromnetz bereits im Vorfeld sägen und sich dabei weniger in Gefahr bringen. Gehen wir in die Offensive! (…)“ Ein weiterer sabotierter Strommast also und ein weiterer Aufruf angesichts der Zerstörung der Erde zum Angriff über zu gehen…

Aber machen wir noch einmal einen Schritt zurück. Was sagte dieser seit einem Jahrzehnt inhaftierte italienische Anarchist Alfredo Cospito, der sich für die Entlassung aus der Isolationshaft im Hungerstreik befand, genau im Hinblick auf die sogenannten Umweltkämpfe als Beitrag zu einem Treffen in Bure?

Zunächst möchte ich mich vorstellen: Vor 8 Jahren schoss ich dem CEO von Ansaldo Nucleare, dem Entwickler und Erbauer von Kernkraftwerken, in die Beine. Man muss wissen, dass Italien, auch wenn es keine Atomkraftwerke hat, diese in aller Ruhe in Länder wie Rumänien, Kroatien, Albanien… exportiert. Das Ziel dieser Aktion war es, die Anti-Atom-Bewegung in Italien wiederzubeleben und dem Kampf gegen das techno-industrielle System eine aggressive Beschleunigung zu geben. Mit einer „durchschlagenden“ Aktion wollten wir zeigen, dass die AnarchistInnen einen der Verantwortlichen für die Wiederbelebung der Atomenergie in „unserem“ Land „am lebendigen Leib“ treffen können. Ausnahmsweise haben wir uns nicht auf die alleinige zerstörerische Aktion gegen Dinge „beschränkt“, sondern wir haben eine andere Richtung eingeschlagen, indem wir direkt die Verantwortlichen für die Zerstörung „unseres“ Planeten getroffen haben. Wir haben diese Aktion mit dem Akronym „Nucleo Olga (FAI-FRI)“ bezeichnet.

Wir wollten die verschiedenen Perspektiven in ihrer Machbarkeit sichtbar machen und eine größere Offenheit für die verschiedenen Formen und Praktiken anarchistischer ökologischer Aktion anregen. Das Tabu zurückweisen, dass nur Aktionen gegen Dinge eine Berechtigung haben können. Die absurde Überzeugung von der absoluten Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in Frage zu stellen, selbst bei denjenigen, die im Namen der Wissenschaft des Fortschritts Massaker veranstalten. Das Ziel wurde nur marginal erreicht (auch wenn es viele GefährtInnen zum Nachdenken gebracht hat), weil die Praxis der „vielgestaltigen“ Aktion (zumindest hier in Italien) noch nicht vollständig verstanden und noch weniger mit ihrem ganzen Potential praktiziert wurde und noch viele Vorurteile bestehen. Viele Leute sehen „friedliche“ Blockaden von Straßenkonfrontationen, von Angriffen auf Personen zu Angriffen auf Sachen, von der Verwendung von dauerhaften Akronymen, um Kontinuität zu geben, zu zeitweiligen Akronymen getrennt voneinander… Wenige Leute erkennen, dass alle diese Praktiken ihren eigenen Grund, ihren eigenen spezifischen Zweck haben und nicht notwendigerweise im Widerspruch zueinander stehen. Und in bestimmten Situationen (wie in Bure), wenn sie unvoreingenommen praktiziert werden, ergänzen sie sich gegenseitig und werden wirklich effektiv, verheerend und desorientierend für die Macht. Das heißt natürlich, wenn man nicht „Exkommunikation!“ schreit, wenn bestimmte Aktionen weiter gehen und härter zuschlagen. Dies sind alles Praktiken, die, wenn sie parallel verfolgt werden, ohne sich zu widersprechen und zu bekämpfen, einen Unterschied machen und das Ziel erreichen können. Das Fehlen einer dieser Praktiken schwächt die Stärke aller anderen. Wichtig ist, dass sie die Ablehnung jeglicher institutionellen Vergiftung beinhalten, sonst werden sie zu einer Akzeptanz des Systems, nur zu kontraproduktiven Linderungsmaßnahmen. Ein spezifischer Kampf in einem abgegrenzten Gebiet wie „Bure“ kann nicht nur durch Aktionen im Rest des Landes, sondern sogar darüber hinaus verstärkt werden. Es genügt, an diese Art von „schwarzer Internationale“ zu denken, die, ohne eine zentralisierende Organisation zu brauchen, immer wieder bewiesen hat, dass sie die Kraft hat, „unsere“ Kämpfe von außen (aus den vier Ecken der Welt) zu unterstützen.

Ich werde nicht müde, es zu sagen, auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Wir AnarchistInnen haben eine mächtige Waffe, die in ihrer Einfachheit außerordentlich wirksam ist: die „Affinitätsgruppe“. GefährtInnen, die durch tiefe Zuneigung und Vertrauen verbunden sind, die beschließen, zu handeln, zuzuschlagen und gesund nach Hause zurückzukehren, um dann erneut zuzuschlagen. Die „Affinitätsgruppe“ findet, wenn sie zu einer „Aktionsgruppe“ wird, ihre stärkste Bedeutung in illegalen, zerstörerischen und riskanten Aktionen. Diese Gruppen hängen nicht von den Vollversammlungen ab, sie sind etwas anderes, sie haben nichts mit der Organisation zu tun, sie leben von befreienden, zerstörerischen Gesten und können dem System wirklich gefährlich werden. Vor allem, wenn sie keine Verachtung oder Überlegenheit gegenüber den Menschen, ihren Kampfversammlungen, beinhalten. Wenn die Aktion des Einzelnen oder der kleinen Gruppe nicht im Gegensatz zum Kampf „der Leute“ steht, stärkt sie ihn, treibt ihn weiter voran. Die gewaltsame und bewaffnete Aktion ist nur ein (wichtiger) Teil des Lebens einer Anarchistin, und es ist kein Widerspruch, sich nach einer Aktion an der Seite der „Leute“ in einer Versammlung zu befinden, um mitzureden, oder auf einer Barrikade oder einer Straßensperre, das einzige, was man von vornherein vermeiden sollte, ist der Dialog mit der Macht, mit den Institutionen. (…)

Es ist allen klar, dass es sich hier um einen Kampf um das Überleben nicht nur unserer Spezies, sondern um das Leben „unseres“ Planeten handelt, denn die Natur ist Tag für Tag in Gefahr, „zum Monster gemacht zu werden“. Nuklearwissenschaft und -technologie sind dabei, die chaotische Ordnung der Natur in ihren Grundfesten zu erschüttern. Wir haben nicht mehr viel Zeit, wenn wir die Dinge wirklich ändern und diesen selbstzerstörerischen Prozess umkehren wollen. Wir dürfen nicht, und vor allem können wir dem Handeln keine Grenzen mehr setzen, wir müssen die Ängste überwinden und die Skrupel aufgeben und loslegen.“

Nun gut, vielleicht sind die drei im Voraus genannten Angriffe Beispiele für das, was der in italienischen Kerkern lebendig begrabene Gefährte meint, wenn er von Aktionen in einem Kampf redet, die weitergehen und härter zuschlagen. Vielleicht sind sie auch nur weitere Versuche die Arterien des industriellen Systems zu durchtrennen, die sich überall befinden und dieses mit Energie, Daten und Waren versorgen.

In jedem Fall zeichnen die aufgeworfenen Ziele interessante Eckpunkte, wenn wir darüber reden, „die Frage der sozialen Revolution mit der Frage der Ökologie zu verknüpfen“: Die Atomindustrie, die Militär- und Flugindustrie sowie die (Öl- und) chemische Industrie. Alle drei zweifellos Industriezweige, die beispielhaft für nicht nur einen gigantischen Energiehunger des industriellen Systems, sondern auch für dessen Zerstörung, Vergiftung und Verpestung des Planeten stehen.

Aber wechseln wir für einen Moment das Zentrum unserer Aufmerksamkeit: In Deutschland scheint gerade eine sogenannte Klimabewegung Dynamik zu bekommen. Das geräumte Dorf Lützerath wurde kürzlich zu einem Punkt des Kampfes gegen die zerstörerische Monstrosität der Kohleindustrie. Auch inmitten dieses Kampfes schien es zahlreiche Menschen gegeben zu haben, die sich in gemeinsamen Vertrauen zueinander zusammen getan haben, um zuzuschlagen, und weiter zu gehen: Angriffe auf Bullen und ihre Autos rund um Lützerath, Sabotagen der RWE-Kohlebahn, Blockaden von Zufahrtsstraßen und Besetzungen von Maschinen, zerstörte Scheiben von Parteibüros in diversen Orten, abgefackelte Siemens-Autos und Strabag-Transporter, solidarische Demos, die Scherben klirren lassen und ein lichterloh brennender Fuhrpark von Amazon. All diese Handlungen kommen in einem gemeinsamen Kampf zusammen, der durch eine gemeinsame Vielfältigkeit in Aktionsformen und eine gleichzeitige klare Ablehnung der Institutionen der Macht geeint wird. Ohne Vollversammlungen, ohne zentrale Organisation oder Pressesprecherinnen, gewinnt ein Kampf umso mehr an Stärke und Dynamik, wenn er das Experimentierfeld für diejenigen wird, die auf seiner Grundlage einzigartige Beziehungen knüpfen und sich entscheiden frei und wild anzugreifen, in was für einer Art und Weise auch immer. Die Lebendigkeit eines Kampfes zeichnet die Vielfältigkeit seiner Aktionsformen aus und die gemeinsame Solidarität unter diesen.

Ein Kampf gegen die Kohleindustrie, aber nicht nur, ein Kampf gegen die industrielle Zerstörung des Planeten also… Was sind mögliche Schritte um weiter zu gehen? Wir werden sehen…

#0 – Der beste Angriff ist nicht die Verteidigung

Offener (und verzweifelter) Brief an diejenigen, die unser eigenes Brot essen

[Dieser Text wurde während des Hungerstreiks von Alfredo Cospito veröffentlicht. Wir verbreiten ihn trotzdem, da wir denken, dass er wichtige Reflexionen und Kritiken anstößt.]

Liebe Gefährt:innen,

in diesen dunklen Zeiten, in denen sich jeder Horizont endgültig vor unseren Augen zu schließen scheint, wenden wir uns an euch, und nur an euch (an die Kämpfer:innen, nicht an die Jäger:innen des Konsenses; an die unerschütterlichen Träumer:innen, nicht an die situationsbedingten Pragmatiker:innen – also nicht an die Militanten und Opportunisten). An Euch, die Ihr uns in all den Jahren in Italien und in der Welt begegnet seid, oder auch an völlig Unbekannte, die Einzigen, die unsere gegenwärtige Geisteshaltung und unsere Worte verstehen können. Viele sagen, dass diejenigen, die keine Hoffnung haben, schweigen sollten. Das würde zwar das Schweigen erklären, in das viele von uns verfallen, aber wir stimmen dem nicht zu. In gewisser Weise sind wir sogar der Meinung, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Diejenigen, die hartnäckig mit beschwörenden Erzählungen hausieren gehen (vom himmlischen Paradies als Belohnung für irdische Resignation über den Kommunismus als unausweichliches Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung bis hin zum Aufstand, der jede Bürgermobilisierung oder jeden Nachbarschaftsaufstand begleitet), sollten den Mund halten. Gerade jetzt, wo die Menschheit auf dem besten Wege ist, sich selbst zu vernichten, wo der Planet am Rande des ökologischen Kollapses steht, wo das soziales Massaker von Tag zu Tag schlimmer wird, wo ein Krieg mit Atomwaffen geführt wird, wo die freiwillige Knechtschaft so weit verbreitet ist, dass jedes Streben nach der geringsten Freiheit lächerlich erscheint, scheint es uns dringender und notwendiger denn je, tief in die Wirklichkeit einzudringen und nicht an der Oberfläche der Dinge zu kratzen, um daraus beruhigende Illusionen abzuleiten. Deshalb ist dieser Brief verzweifelt, weil er aus der Entmutigung angesichts einer Situation entstanden ist, die in jeder Hinsicht ausweglos erscheint.

Wir verstecken es nicht. Wir haben auf das Zusammentreffen von Denken und Handeln gesetzt, wir sind von Meinungen und Inszenierungen eingenommen. Wir haben den Einzigen und sein Eigentum beschworen und sind nun von Selfies und ihrer Eitelkeit umgeben. Wir haben versucht, Utopien zu verbreiten, und sind vom Realismus erdrückt worden. Wir haben die exzessivsten und einzigartigsten Ideen geliebt und sind der pauschalisierten und massentauglichen Propaganda ausgeliefert. Wir haben uns nach dem Erwachen des Gewissens gesehnt und sind nun Gefangene des Algorithmus. Wir haben der Ethik den Vorrang gegeben und sind von der Politik überwältigt worden. Die Poesie hat vielleicht Auschwitz überlebt (und das Fernsehen?), aber das kritische Denken wurde im Silicon Valley ausgelöscht. Wir sind wie die deutschen Revolutionäre geworden, denen Stig Dagerman1 in der unmittelbaren Nachkriegszeit begegnete: lebende Ruinen, würdevoll, aber selten.

Und heute? Was haben wir noch zu sagen, wenn die Worte überall ihre Bedeutung verloren haben? Oben wie unten, in den Palästen wie auf den Plätzen, alles ist zu einem krächzenden Geschwätz geworden, zu einer riesigen Farce, die einen bestürzt und fassungslos zurücklässt. Die x-te Demonstration in diesem Sinne ist in den letzten Tagen2 die Reaktion auf den Hungerstreik bis zum bitteren Ende des anarchistischen Gefangenen Alfredo Cospito, dessen angekündigte, erwartete, befürchtete, von manchen gewünschte Leiche einen wahren Maskenball eröffnet hat.

Habt ihr schon einmal von Satanta, dem Weißen Bären gehört, dem Häuptling der Kiowa, einem der vielen Stämme der amerikanischen Ureinwohner:innen? Er war groß und kräftig, nahm an vielen Schlachten teil und zeichnete sich durch seinen Mut aus. Er war einer der ersten Indianerhäuptlinge, die von einem weißen Gericht verurteilt wurden. Er verbrachte einige Jahre im Gefängnis, wurde dann freigelassen, aber aus Angst, er könne die kriegerischen Instinkte der jüngeren Indianer wecken, wurde er kurz darauf wieder ins Gefängnis gesteckt. Einige Jahre lang verbrachte Weißer Bär viele Stunden damit, durch die Gitterstäbe zu spähen. Seine Augen blickten nach Norden, in die Jagdgründe seines Volkes. Als er erkannte, dass er nie wieder frei durch die Wälder und Prärien reiten würde, als er erkannte, dass er nie wieder in einem Teepee (einem Zelt mit kreisförmigem Grundriss, Symbol für Bewegung und Gleichheit) schlafen würde, als er erkannte, dass er nie wieder die anderen Mitglieder seines Stammes sehen würde, sondern in einer rechteckigen Betonzelle verrotten würde, beschloss er, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Am 11. Oktober 1878 stürzte er sich aus dem Fenster eines Gefängniskrankenhauses in Huntsville, Texas. Eine nachvollziehbare Entscheidung. Eine menschliche Entscheidung.

Alfredo Cospito, ebenfalls groß und bis vor kurzem von kräftiger Statur, ist kein amerikanischer Ureinwohner, sondern ein Anarchist, der vor mehr als zehn Jahren ins Gefängnis kam, weil er dem Hauptverantwortlichen für die Atomenergie in Italien, dem Geschäftsführer von Ansaldo Nucleare in Genua, in die Beine geschossen hatte. Seit dem 20. Oktober befindet er sich im Hungerstreik [bis zum 19.04.2023], um gegen das Gefängnisregime 41Bis zu protestieren, dem er seit Mai letzten Jahres unterworfen ist. Sein Leben ist in Gefahr, aber er will nicht aufgeben. Er sagt, dass er bis zu seinem letzten Atemzug weitermachen wird, und da man seine Hartnäckigkeit und Entschlossenheit kennt, ist er dazu auch in der Lage. Nur er kann sagen, was er akzeptieren kann und was nicht. Er allein kann entscheiden, was er mit seinem Körper machen will. Wie er leben möchte, wie er sterben möchte. Und warum.

So weit, so gut. Jeder trifft seine eigenen Entscheidungen, ob man sie teilt oder nicht. Aber im Gegensatz zum Weißen Bären hat Alfredo Cospito eine politische Entscheidung getroffen. Er nimmt den Tod in Kauf, um eine bestimmte Forderung durchzusetzen. Mit seinem Hungerstreik will er die Abschaffung des 41bis erreichen, das heißt, er will den Staat zwingen, die so genannte „harte Haft“ aus seinem Gesetz zu streichen. Je mehr Tage vergehen, je mehr Solidaritätsaktionen sich in der ganzen Welt ausbreiten und je näher der tragische Ausgang rückt, desto mehr Aufsehen erregt sein Kampf. Dass sich die Reaktionäre über diese „Erpressung“ der Institutionen durch einen Verurteilten empören, liegt in der Natur der Sache und ist nicht weiter erwähnenswert. Es ist auch nicht verwunderlich, dass die Progressiven oder Pseudodissidenten verschiedener Couleur sich auf diesen „zivilisierten gewaltlosen Protest“ stürzen, weshalb man über die Solidarität der üblichen Schöngeister (Priester, Intellektuelle, Künstler) nur die Achseln zucken und über die der Halunken (Richter, Ex-Minister, Neofaschisten) die Nase rümpfen kann… Das ist das Spiel der Dinge, und es ist sinnlos, zu versuchen, es zu verstehen.

Dennoch können wir nicht umhin, denen, die Ohren und Herzen haben, eine Frage zu stellen: Wäre so viel übergreifendes Interesse möglich gewesen, wenn die ursprüngliche Forderung nicht an sich politisch-humanitärer Natur gewesen wäre? Was wir meinen, sagt der Anwalt des Anarchisten selbst, wenn er erklärt, dass „der große Verdienst von Cospito darin besteht, die öffentliche Debatte darüber wieder in Gang gebracht zu haben, was das 41bis ist und ob es mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht“. Das sind nicht nur die Worte eines Anwalts, der seine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen macht, sondern es ist die einzig mögliche Perspektive auf die aufgeworfene Frage: Wenn die Aufgabe des Gefängnisses die Umerziehung ist, wie man uns glauben machen will, welchen Sinn hat dann ein hartes Strafsystem wie das 41bis? Sollte der Staat es nicht abschaffen oder zumindest so weit wie möglich einschränken? (Beschränkung auf Mafiosi, die Kinder in Säure auflösen, als ob man nicht wüsste, dass der Staat diese Mafiosi nach ihrer Reue freigelassen hat). Obwohl diese Frage in der Öffentlichkeit diskutiert wird, ist sie eine rein institutionelle Frage. Nicht sozial, nicht populär, nicht klassenbezogen und schon gar nicht nihilistisch, sondern institutionell. Dies wird in dem Appell für Cospito, der „an die Gefängnisverwaltung, den Justizminister und die Regierung“ gerichtet ist und von Dutzenden Juristen, Richtern und Akademikern in verschiedenen Funktionen unterzeichnet wurde, aufgegriffen und bekräftigt: „Die Haltung derer, die den Körper zum ultimativen Instrument des Protests und der Bestätigung ihrer Identität machen, als Herausforderung oder Erpressung zu bezeichnen, bedeutet, unsere Verfassung zu verraten, die das menschliche Leben und die Würde der Person an die Spitze der Werte stellt, deren Schutz dem Staat anvertraut ist, um seiner eigenen Legitimität und Glaubwürdigkeit willen und nicht als Zugeständnis an diejenigen, die sich ihm widersetzen. Darin liegt der Unterschied zwischen demokratischen Staaten und autoritären Regimen.“

Es genügt, solche Sätze und die Namen der Unterzeichner zu lesen, um zu verstehen, worum es ihnen wirklich geht: um den Versuch zu retten, was von dem totalen Schiffbruch, den das Recht erlitten hat, noch zu retten ist. In gewissem Sinne sprechen diejenigen die Wahrheit, die sagen, dass sie Alfredo Cospito retten wollen, um die Demokratie zu verteidigen, die so delegitimiert ist, dass es notwendig ist, ihre Entgleisungen durch eine noble Geste auszugleichen. Das Leben eines Anarchisten zu retten, der noch nie jemanden getötet hat, könnte die richtige Gelegenheit sein. „Ja, es stimmt, wir haben die Unruhestifter von der Knastrevolte in Modena getötet, wir haben die Gefangenen von Ivrea massakriert, wir haben das Leben von Millionen Menschen unmöglich gemacht, aber kommt schon, wir waren nachsichtig mit diesem Anarchisten…“. Das ist es, was einen Gherardo Colombo dazu bringt, sich um Cospito zu sorgen, der immer als der Richter in Erinnerung bleiben wird, der Pinelli zum zweiten Mal tötete3. Eine Motivation, die sich auch auf diejenigen übertragen lässt, die wie Adriano Sofri oder Donatella Di Cesare an der Lynchjustiz gegen die Gegner des Greenpass beteiligt waren.

Aber alle gelegentlichen Ergüsse des guten Gefühls in dieser Welt können nicht mehr über die nackte Tatsache hinwegtäuschen: Die Demokratie ist ein autoritäres Regime. Und das ist nach drei Jahren staatlicher Demütigung menschlichen Lebens und menschlicher Würde im Namen der Volksgesundheit keine radikale Kritik einiger Hitzköpfe mehr, sondern eine banale Feststellung der Tatsachen.

Man muss kein:e Anarchist:in sein, um zu erkennen, dass die Verfassung nicht mehr als ein Toilettenpapier ist, wenn man sieht, wie sie in letzter Zeit von ihren eigenen Bewunderern öffentlich verwendet wird. Selbst diejenigen, die sich eine solide Gelehrsamkeit und einen philosophischen Ruf auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft erworben haben, mussten in letzter Zeit zugeben, dass sie einem Juristen oder jemandem, der die Art und Weise anprangert, in der das Recht und die Verfassung manipuliert und verraten wurden, nicht mehr „entgegentreten können, ohne das Rechtssystem und die Verfassung nicht in Frage zu stellen“. Muss ich an dieser Stelle, ganz abgesehen von der Gegenwart, daran erinnern, dass weder Mussolini noch Hitler, die in Italien und Deutschland geltenden Verfassungen in Frage zu stellen brauchten, sondern in ihnen die Rechtsgrundlagen fanden, die sie zur Errichtung ihrer Regime benötigten? Es ist also möglich, dass die Geste derer, die heute versuchen, ihren Kampf auf die Verfassung und die Rechte zu stützen, bereits im Ansatz besiegt ist… Es ist, als ob bestimmte Verfahrensweisen oder bestimmte Prinzipien, an die man geglaubt hat, oder besser gesagt, zu glauben vorgab, nun ihr wahres Gesicht gezeigt haben, das man nicht ignorieren kann. Es ist paradox, dass das, was selbst ein Akademiker wie Agamben zu verstehen vermochte, den meisten Subversiven entgeht, die heute das Ende vom 41bis fordern. Unter dem moralischen Druck, den Tod eines Anarchisten zu verhindern, sehen sie den Sinn ihrer Mobilisierung nicht.

Es genügt festzustellen, dass der Ton dieses Hungerstreiks derselbe bleibt, wenn man von den Palästen und Gerichtssälen auf die Straße geht. Er ist, gelinde gesagt, erbärmlich. Ganz zu schweigen von der peinlichen Lobpreisung der Heiligkeit des Märtyrertums. Aber was soll man von der ständigen Unterscheidung zwischen bösen Mafiosi und guten Anarchist:innen halten? Oder von der beklagenswerten Anprangerung des Missverhältnisses zwischen den begangenen Taten und den verhängten Strafen (sicherlich nichts Neues, wenn man an die 14 Jahre Haft denkt, die für die Tage von Genua 2001 verhängt wurden), die zwar im Gerichtssaal angebracht ist, aber aus dem Munde derer, die es nicht mehr wagen, immer und nur die Zerstörung der Gefängnisse zu unterstützen, besonders widerwärtig klingt? Was kann man über den üblichen „Quantitätswahn“ sagen, der so anschwillt, aber nichts wachsen lässt, und der von denen genährt wird, die die gelegentlichen Gewissensbisse von Richtern und Intellektuellen als Beweis für einen breiten Konsens nehmen? Nun, es ist sicherlich unmöglich zu sagen, was unfreiwillig komischer ist: der Vorschlag eines norwegischen Politikers, einem der größten Kriegsherren (dem NATO-Sekretär) den Friedensnobelpreis zu verleihen, oder die Initiative einiger „Anarchist:innen“, die darauf abzielt, „das ohrenbetäubende Schweigen des Pächters der Quirinalspalast“ [Dienstsitz des Präsidenten der Italienischen Republik] zu brechen, um „das Gewissen (und den seligen Schlaf…) derer zu wecken, die die Sicherheit von Alfredo schützen sollten“. Wenn man von denen hört, die unermüdlich ihre „Solidarität mit Alfredo und seinen Praktiken“ bekunden, dass ein Staatsoberhaupt über die Gesundheit eines Staatsfeindes wachen sollte, ist man geneigt, die Worte eines berühmten französischen Anarchisten zu paraphrasieren4, der das Schafott bestieg: In dem virtuellen Krieg, den sie der Bourgeoisie erklärt haben, fordern bestimmte Anarchist:innen Schutz; sie geben nicht den Tod, sie fordern, ihn nicht zu erleiden.

Im Gegensatz zu denjenigen, die sich in einer Fata Morgana sonnen und aus den Äußerungen einiger Fernsehjournalisten, die den Hungerstreik von Cospito kommentierten, eine elektrisierende Schwäche des Staates ableiten, scheint es uns im Gegenteil, dass die Anarchist:innen mehr als nur schwache und authentische Marionetten geworden sind, wenn sie darauf reduziert werden, zu Megaphonen der verfassungspolitischen Kämpfe zu werden. Der Staat hat es nicht einmal mehr nötig, die anarchistische Bewegung zu liquidieren, die sich selbst liquidiert hat, indem sie auf ihre eigenen Ideen verzichtet hat, um pragmatische taktische Annäherung zu verwirklichen. Wenn heute ein großer Teil der Linken sich den Anarchist:innen anschließt, dann nicht, weil die Ereignisse sie dazu zwingen, sondern weil diese Anarchist:innen heute fast die Einzigen sind, die dem Aufruf folgen, „etwas Linkes, oder auch etwas Nicht-Linkes, etwas Zivilisiertes zu sagen…“ – wie zum Beispiel die Abschaffung des 41bis zu fordern. Übrigens, habt ihr euch schon gefragt, wie viel Hoffnung auf einen Sieg in einem solchen Kampf besteht? Wenn man bedenkt, dass die Qualen eines Anarchisten im Gefängnis und ein paar zerbrochene Fensterscheiben im Jahr 2023 den Staat wahrscheinlich genauso wenig brechen können wie die Bomben der Mafia, die vor dreißig Jahren explodierten, wie viele Stiche können wir dann noch spielen? Der Erlass der Freiheitsstrafe nach Artikel 41bis und die Nichtanwendung der lebenslangen Freiheitsstrafe in seinem Fall? Was für ein großartiger Sieg: Unter dem Regime der gewöhnlichen Hochsicherheit hätte er nur mit zwanzig Jahren Gefängnis rechnen müssen…

Vor vierzig Jahren gab es diejenigen, die den Vorschlag einer Amnestie für die politischen Gefangenen mit der Begründung kritisierten, dass der moralische Druck von viertausend in Einsamkeit sterbenden Leichen keine Verhandlungen mit dem Staat rechtfertigen könne. Man dürfe nicht die Freilassung der Genossen fordern, um den Kampf wieder aufzunehmen, sondern man müsse kämpfen, um die Freilassung der Genossen zu erreichen. Selbst wenn man die unterschiedlichen historischen Kontexte berücksichtigt, ist in der Tat ein Jahrtausend vergangen, wenn man heute die Änderung des Gefängnisregimes für einen Anarchisten (plus drei Stalinist:innen und ein paar hundert angebliche Mafiosi) zum Ziel der Mobilisierung einer ganzen Bewegung macht. Man kann ein schönes Märchen über die anarchistische Außergewöhnlichkeit in der allgemeinen italienischen Situation erzählen und sich heute die Qualen der Bourgeoisie vorstellen, die wütend auf den Staat ist, weil er die Anarchist:innen „entfesselt“ hat, so wie man sich gestern die Wiederauferstehung der Pariser Kommune unter dem Himmel von Venaus5 vorgestellt hat. In Wirklichkeit herrscht der Staat heute so unangefochten, dass er sich alles erlauben kann: Anarchist:innen nach Belieben im Gefängnis verrotten zu lassen, Gewerkschafter wegen Erpressung anzuklagen oder Umweltaktivisten unter besondere Beobachtung zu stellen. Warum sollte er das nicht tun? Weil es verfassungswidrig ist? Wenn er 60 Millionen ehrliche Bürger in den eigenen vier Wänden eingesperrt hat, ohne dass jemand einen Mucks von sich gegeben hätte, ja sogar unter dem Beifall vieler r-r-Revolutionäre, dann kann er doch einen Anarchisten tot oder lebendig begraben. Ohne sich rechtfertigen zu müssen. Vor wem sollte er sich rechtfertigen? Vor den Journalisten? Vor den Intellektuellen? Vor den Politikern? Vor den Juristen? Vor der öffentlichen Meinung? Vor den Untertanen, die ihren eigenen Schatten und sogar ihren eigenen Atem fürchten? Vor den Subversiven, die nur Forderungen zu stellen vermögen, dass der Staat sich besser, gerechter und fairer verhalten soll?

Der Sieg des Staates ist dann wirklich vollkommen, wenn seine Feinde nur noch seine eigene Sprache sprechen und zeigen, dass sie nicht mehr den Himmel stürmen wollen (sie begnügen sich damit, ein paar Höhlen in der Erde zu verteidigen).

Alfredo Cospito lebt noch und setzt seinen Hungerstreik fort. Er tut, was er kann und was ihm einfällt, um aus dem Loch herauszukommen, in dem er eingesperrt ist. Aber da er sich in den Händen des Staates befindet und dieses Spiel ausschließlich auf institutionellem Boden gespielt wird, gibt es keinen Grund, optimistisch über sein Schicksal zu sein. Die Regierung hat reichlich Gelegenheit, mit der Situation zu jonglieren. Sie kann sich einen Dreck scheren und in der Tradition des Patriotismus die Dinge gerade rücken, sie kann die Tortur des Gefangenen durch Zwangsernährung verlängern, sie kann sich heute großzügig zeigen, um morgen noch grausamer zu sein. Er kann sogar eine gewisse humanitäre Gesinnung an den Tag legen und dann den Stecker ziehen („Oops, es gab eine Komplikation, es tut uns leid, wir haben alles getan, aber ihr wisst ja, wie das ist, sein Körper war geschwächt“). Wie jeder Glücksspieler weiß, gewinnt auf lange Sicht immer die Bank.

„Wenn die Sinopen mich zur Verbannung verurteilt haben, verurteile ich sie dazu, in ihrer Heimat zu bleiben“, soll Diogenes der Zyniker gesagt haben. Ist das die Kunst, gute Miene zum bösen Spiel zu machen oder eine zornige Lebensphilosophie? Liebe Gefährten und Gefährtinnen, auch wir sind zum Exil verurteilt, zum ewigen Exil, weil es in dieser Welt keinen Platz mehr für uns gibt. Ein Traum nach dem anderen, ein Wunsch nach dem anderen, eine Freiheit nach der anderen, alles wird uns entrissen. Und das Wissen, dass das Aussterben der Freiheitsliebenden dem Aussterben der Verfechter der Autorität vorausgeht, ist für uns kein großer Trost. Aber hier, inmitten von Einsamkeit und Verzweiflung, gibt es nicht nur die Mutlosigkeit, Bitterkeit, Melancholie, Übelkeit. Hier gibt es auch das, was man den Mut der Verzweiflung nennt, die Entschlossenheit, alles zu versuchen, weil man nichts mehr zu verlieren hat.

Finden wir diesen Mut. Verbannen wir die domestizierten Zweibeiner dazu in ihrer Heimat zu bleiben und vergeuden wir keine Zeit mehr damit, ihren Parteien, ihren Klassen, ihren Bewegungen hinterherzulaufen. Bereichern wir die Wege des Exils. Bereiten wir uns auf die Einsamkeit vor. Üben wir, in der Wüste zu überleben, uns in der Wüste zu bewegen, in der Wüste zu kämpfen. Ohne Skrupel, ohne Mitleid. Für eine zornige Lebensphilosophie, für eine rachsüchtige Lebensphilosophie.

Tod, das Leben liegt auf der Lauer.

(gefunden auf abirato.net)

1 Stig Halvard Dagerman war ein schwedischer Anarchist und veröffentlichte das Buch „Deutscher Herbst“. In diesem beschreibt er 1946 das zerstörte Nachkriegsdeutschland. ein Bild des zerstörten Landes nach dem Weltkrieg zu geben.

2 Es wird sich höchstwahrscheinlich auf die italienweit mobilisierte Demonstration in Turin am 04.03.2023 bezogen. Im Verlauf dieser Demonstration kam es zu massiven Angriffen auf Banken, Luxusautos/Geschäfte.

3 In Rahmen einer richterlichten Ermittlung, u.a. geleitet von Gherardo Colombo wurde behauptet, das Giuseppe Pinelli angeblich, als er am Fenster auf der Polizeiwache, einen Schwächeanfall hatte dadurch aus dem Fenster gestürzt sein muss.

4 Im Original heißt es: „In diesem erbarmungslosen Krieg, den wir der Bourgeoisie erklärt haben, verlangen wir kein Mitleid. Wir geben den Tod, und wir wissen ihn zu ertragen.“ Es wird sich hier auf Emile Henry bezogen der diesen Satz in seiner Prozesserklärung verwendet hat. Knapp einen Monat danach wurde er mit 21 Jahren am 24. Mai 1884 vom Scharfrichter mit einem Fallbeil geköpft. Die Autoren von dem Text „Der beste Angriff ist nicht die Verteidigung“ haben den ursprünglichen Satz als Anspielung umformuliert.

5 Venaus ist ein Dorf was an der Grenze zwischen Frankreich in Italien liegt. Es ist Drehangelpunkt im No-Tav (Bürger-)Kampf gegen den Hochgeschwindigkeitszug, der Italien mit Frankreich verbinden soll. Gewisse Bewegungsmanager und Gruppierungen sahen in diesem weitgefächerten Kampf ein großes aufständisches Potenzial. Daher der Vergleich mit der Pariser Kommune.