Offener (und verzweifelter) Brief an diejenigen, die unser eigenes Brot essen
[Dieser Text wurde während des Hungerstreiks von Alfredo Cospito veröffentlicht. Wir verbreiten ihn trotzdem, da wir denken, dass er wichtige Reflexionen und Kritiken anstößt.]
Liebe
Gefährt:innen,
in
diesen dunklen Zeiten, in denen sich jeder Horizont endgültig vor
unseren Augen zu schließen scheint, wenden wir uns an euch, und nur
an euch (an die Kämpfer:innen, nicht an die Jäger:innen des
Konsenses; an die unerschütterlichen Träumer:innen, nicht an die
situationsbedingten Pragmatiker:innen – also nicht an die
Militanten und Opportunisten). An Euch, die Ihr uns in all den Jahren
in Italien und in der Welt begegnet seid, oder auch an völlig
Unbekannte, die Einzigen, die unsere gegenwärtige Geisteshaltung und
unsere Worte verstehen können. Viele sagen, dass diejenigen, die
keine Hoffnung haben, schweigen sollten. Das würde zwar das
Schweigen erklären, in das viele von uns verfallen, aber wir stimmen
dem nicht zu. In gewisser Weise sind wir sogar der Meinung, dass
genau das Gegenteil der Fall ist: Diejenigen, die hartnäckig mit
beschwörenden Erzählungen hausieren gehen (vom himmlischen Paradies
als Belohnung für irdische Resignation über den Kommunismus als
unausweichliches Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung bis hin
zum Aufstand, der jede Bürgermobilisierung oder jeden
Nachbarschaftsaufstand begleitet), sollten den Mund halten. Gerade
jetzt, wo die Menschheit auf dem besten Wege ist, sich selbst zu
vernichten, wo der Planet am Rande des ökologischen Kollapses steht,
wo das soziales Massaker von Tag zu Tag schlimmer wird, wo ein Krieg
mit Atomwaffen geführt wird, wo die freiwillige Knechtschaft so weit
verbreitet ist, dass jedes Streben nach der geringsten Freiheit
lächerlich erscheint, scheint es uns dringender und notwendiger denn
je, tief in die Wirklichkeit einzudringen und nicht an der Oberfläche
der Dinge zu kratzen, um daraus beruhigende Illusionen abzuleiten.
Deshalb ist dieser Brief verzweifelt, weil er aus der Entmutigung
angesichts einer Situation entstanden ist, die in jeder Hinsicht
ausweglos erscheint.
Wir
verstecken es nicht. Wir haben auf das Zusammentreffen von Denken und
Handeln gesetzt, wir sind von Meinungen und Inszenierungen
eingenommen. Wir haben den Einzigen und sein Eigentum beschworen und
sind nun von Selfies und ihrer Eitelkeit umgeben. Wir haben versucht,
Utopien zu verbreiten, und sind vom Realismus erdrückt worden. Wir
haben die exzessivsten und einzigartigsten Ideen geliebt und sind der
pauschalisierten und massentauglichen Propaganda ausgeliefert. Wir
haben uns nach dem Erwachen des Gewissens gesehnt und sind nun
Gefangene des Algorithmus. Wir haben der Ethik den Vorrang gegeben
und sind von der Politik überwältigt worden. Die Poesie hat
vielleicht Auschwitz überlebt (und das Fernsehen?), aber das
kritische Denken wurde im Silicon Valley ausgelöscht. Wir sind wie
die deutschen Revolutionäre geworden, denen Stig Dagerman1
in der unmittelbaren Nachkriegszeit begegnete: lebende Ruinen,
würdevoll, aber selten.
Und
heute? Was haben wir noch zu sagen, wenn die Worte überall ihre
Bedeutung verloren haben? Oben wie unten, in den Palästen wie auf
den Plätzen, alles ist zu einem krächzenden Geschwätz geworden, zu
einer riesigen Farce, die einen bestürzt und fassungslos
zurücklässt. Die x-te Demonstration in diesem Sinne ist in den
letzten Tagen2
die Reaktion auf den Hungerstreik bis zum bitteren Ende des
anarchistischen Gefangenen Alfredo Cospito, dessen angekündigte,
erwartete, befürchtete, von manchen gewünschte Leiche einen wahren
Maskenball eröffnet hat.
Habt
ihr schon einmal von Satanta, dem Weißen Bären gehört, dem
Häuptling der Kiowa, einem der vielen Stämme der amerikanischen
Ureinwohner:innen? Er war groß und kräftig, nahm an vielen
Schlachten teil und zeichnete sich durch seinen Mut aus. Er war einer
der ersten Indianerhäuptlinge, die von einem weißen Gericht
verurteilt wurden. Er verbrachte einige Jahre im Gefängnis, wurde
dann freigelassen, aber aus Angst, er könne die kriegerischen
Instinkte der jüngeren Indianer wecken, wurde er kurz darauf wieder
ins Gefängnis gesteckt. Einige Jahre lang verbrachte Weißer Bär
viele Stunden damit, durch die Gitterstäbe zu spähen. Seine Augen
blickten nach Norden, in die Jagdgründe seines Volkes. Als er
erkannte, dass er nie wieder frei durch die Wälder und Prärien
reiten würde, als er erkannte, dass er nie wieder in einem Teepee
(einem Zelt mit kreisförmigem Grundriss, Symbol für Bewegung und
Gleichheit) schlafen würde, als er erkannte, dass er nie wieder die
anderen Mitglieder seines Stammes sehen würde, sondern in einer
rechteckigen Betonzelle verrotten würde, beschloss er, dem Ganzen
ein Ende zu setzen. Am 11. Oktober 1878 stürzte er sich aus dem
Fenster eines Gefängniskrankenhauses in Huntsville, Texas. Eine
nachvollziehbare Entscheidung. Eine menschliche Entscheidung.
Alfredo
Cospito, ebenfalls groß und bis vor kurzem von kräftiger Statur,
ist kein amerikanischer Ureinwohner, sondern ein Anarchist, der vor
mehr als zehn Jahren ins Gefängnis kam, weil er dem
Hauptverantwortlichen für die Atomenergie in Italien, dem
Geschäftsführer von Ansaldo Nucleare in Genua, in die Beine
geschossen hatte. Seit dem 20. Oktober befindet er sich im
Hungerstreik [bis zum 19.04.2023], um gegen das
Gefängnisregime 41Bis zu protestieren, dem er seit Mai letzten
Jahres unterworfen ist. Sein Leben ist in Gefahr, aber er will nicht
aufgeben. Er sagt, dass er bis zu seinem letzten Atemzug weitermachen
wird, und da man seine Hartnäckigkeit und Entschlossenheit kennt,
ist er dazu auch in der Lage. Nur er kann sagen, was er akzeptieren
kann und was nicht. Er allein kann entscheiden, was er mit seinem
Körper machen will. Wie er leben möchte, wie er sterben möchte.
Und warum.
So
weit, so gut. Jeder trifft seine eigenen Entscheidungen, ob man sie
teilt oder nicht. Aber im Gegensatz zum Weißen Bären hat Alfredo
Cospito eine politische Entscheidung getroffen. Er nimmt den Tod in
Kauf, um eine bestimmte Forderung durchzusetzen. Mit seinem
Hungerstreik will er die Abschaffung des 41bis erreichen, das heißt,
er will den Staat zwingen, die so genannte „harte Haft“ aus
seinem Gesetz zu streichen. Je mehr Tage vergehen, je mehr
Solidaritätsaktionen sich in der ganzen Welt ausbreiten und je näher
der tragische Ausgang rückt, desto mehr Aufsehen erregt sein Kampf.
Dass sich die Reaktionäre über diese „Erpressung“ der
Institutionen durch einen Verurteilten empören, liegt in der Natur
der Sache und ist nicht weiter erwähnenswert. Es ist auch nicht
verwunderlich, dass die Progressiven oder Pseudodissidenten
verschiedener Couleur sich auf diesen „zivilisierten gewaltlosen
Protest“ stürzen, weshalb man über die Solidarität der üblichen
Schöngeister (Priester, Intellektuelle, Künstler) nur die Achseln
zucken und über die der Halunken (Richter, Ex-Minister,
Neofaschisten) die Nase rümpfen kann… Das ist das Spiel der Dinge,
und es ist sinnlos, zu versuchen, es zu verstehen.
Dennoch
können wir nicht umhin, denen, die Ohren und Herzen haben, eine
Frage zu stellen: Wäre so viel übergreifendes Interesse möglich
gewesen, wenn die ursprüngliche Forderung nicht an sich
politisch-humanitärer Natur gewesen wäre? Was wir meinen, sagt der
Anwalt des Anarchisten selbst, wenn er erklärt, dass „der große
Verdienst von Cospito darin besteht, die öffentliche Debatte darüber
wieder in Gang gebracht zu haben, was das 41bis ist und ob es mit der
Verfassung vereinbar ist oder nicht“. Das sind nicht nur die Worte
eines Anwalts, der seine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen
macht, sondern es ist die einzig mögliche Perspektive auf die
aufgeworfene Frage: Wenn die Aufgabe des Gefängnisses die
Umerziehung ist, wie man uns glauben machen will, welchen Sinn hat
dann ein hartes Strafsystem wie das 41bis? Sollte der Staat es nicht
abschaffen oder zumindest so weit wie möglich einschränken?
(Beschränkung auf Mafiosi, die Kinder in Säure auflösen, als ob
man nicht wüsste, dass der Staat diese Mafiosi nach ihrer Reue
freigelassen hat). Obwohl diese Frage in der Öffentlichkeit
diskutiert wird, ist sie eine rein institutionelle Frage. Nicht
sozial, nicht populär, nicht klassenbezogen und schon gar nicht
nihilistisch, sondern institutionell. Dies wird in dem Appell für
Cospito, der „an die Gefängnisverwaltung, den Justizminister und
die Regierung“ gerichtet ist und von Dutzenden Juristen, Richtern
und Akademikern in verschiedenen Funktionen unterzeichnet wurde,
aufgegriffen und bekräftigt: „Die Haltung derer, die den Körper
zum ultimativen Instrument des Protests und der Bestätigung ihrer
Identität machen, als Herausforderung oder Erpressung zu bezeichnen,
bedeutet, unsere Verfassung zu verraten, die das menschliche Leben
und die Würde der Person an die Spitze der Werte stellt, deren
Schutz dem Staat anvertraut ist, um seiner eigenen Legitimität und
Glaubwürdigkeit willen und nicht als Zugeständnis an diejenigen,
die sich ihm widersetzen. Darin liegt der Unterschied zwischen
demokratischen Staaten und autoritären Regimen.“
Es
genügt, solche Sätze und die Namen der Unterzeichner zu lesen, um
zu verstehen, worum es ihnen wirklich geht: um den Versuch zu retten,
was von dem totalen Schiffbruch, den das Recht erlitten hat, noch zu
retten ist. In gewissem Sinne sprechen diejenigen die Wahrheit, die
sagen, dass sie Alfredo Cospito retten wollen, um die Demokratie zu
verteidigen, die so delegitimiert ist, dass es notwendig ist, ihre
Entgleisungen durch eine noble Geste auszugleichen. Das Leben eines
Anarchisten zu retten, der noch nie jemanden getötet hat, könnte
die richtige Gelegenheit sein. „Ja, es stimmt, wir haben die
Unruhestifter von der Knastrevolte in Modena getötet, wir haben die
Gefangenen von Ivrea massakriert, wir haben das Leben von Millionen
Menschen unmöglich gemacht, aber kommt schon, wir waren nachsichtig
mit diesem Anarchisten…“. Das ist es, was einen Gherardo Colombo
dazu bringt, sich um Cospito zu sorgen, der immer als der Richter in
Erinnerung bleiben wird, der Pinelli zum zweiten Mal tötete3.
Eine Motivation, die sich auch auf diejenigen übertragen lässt, die
wie Adriano Sofri oder Donatella Di Cesare an der Lynchjustiz gegen
die Gegner des Greenpass beteiligt waren.
Aber
alle gelegentlichen Ergüsse des guten Gefühls in dieser Welt können
nicht mehr über die nackte Tatsache hinwegtäuschen: Die Demokratie
ist ein autoritäres Regime. Und das ist nach drei Jahren staatlicher
Demütigung menschlichen Lebens und menschlicher Würde im Namen der
Volksgesundheit keine radikale Kritik einiger Hitzköpfe mehr,
sondern eine banale Feststellung der Tatsachen.
Man
muss kein:e Anarchist:in sein, um zu erkennen, dass die Verfassung
nicht mehr als ein Toilettenpapier ist, wenn man sieht, wie sie in
letzter Zeit von ihren eigenen Bewunderern öffentlich verwendet
wird. Selbst diejenigen, die sich eine solide Gelehrsamkeit und einen
philosophischen Ruf auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft erworben
haben, mussten in letzter Zeit zugeben, dass sie einem Juristen oder
jemandem, der die Art und Weise anprangert, in der das Recht und die
Verfassung manipuliert und verraten wurden, nicht mehr
„entgegentreten können, ohne das Rechtssystem und die Verfassung
nicht in Frage zu stellen“. Muss ich an dieser Stelle, ganz
abgesehen von der Gegenwart, daran erinnern, dass weder Mussolini
noch Hitler, die in Italien und Deutschland geltenden Verfassungen in
Frage zu stellen brauchten, sondern in ihnen die Rechtsgrundlagen
fanden, die sie zur Errichtung ihrer Regime benötigten? Es ist also
möglich, dass die Geste derer, die heute versuchen, ihren Kampf auf
die Verfassung und die Rechte zu stützen, bereits im Ansatz besiegt
ist… Es ist, als ob bestimmte Verfahrensweisen oder bestimmte
Prinzipien, an die man geglaubt hat, oder besser gesagt, zu glauben
vorgab, nun ihr wahres Gesicht gezeigt haben, das man nicht
ignorieren kann. Es ist paradox, dass das, was selbst ein Akademiker
wie Agamben zu verstehen vermochte, den meisten Subversiven entgeht,
die heute das Ende vom 41bis fordern. Unter dem moralischen Druck,
den Tod eines Anarchisten zu verhindern, sehen sie den Sinn ihrer
Mobilisierung nicht.
Es
genügt festzustellen, dass der Ton dieses Hungerstreiks derselbe
bleibt, wenn man von den Palästen und Gerichtssälen auf die Straße
geht. Er ist, gelinde gesagt, erbärmlich. Ganz zu schweigen von der
peinlichen Lobpreisung der Heiligkeit des Märtyrertums. Aber was
soll man von der ständigen Unterscheidung zwischen bösen Mafiosi
und guten Anarchist:innen halten? Oder von der beklagenswerten
Anprangerung des Missverhältnisses zwischen den begangenen Taten und
den verhängten Strafen (sicherlich nichts Neues, wenn man an die 14
Jahre Haft denkt, die für die Tage von Genua 2001 verhängt wurden),
die zwar im Gerichtssaal angebracht ist, aber aus dem Munde derer,
die es nicht mehr wagen, immer und nur die Zerstörung der
Gefängnisse zu unterstützen, besonders widerwärtig klingt? Was
kann man über den üblichen „Quantitätswahn“ sagen, der so
anschwillt, aber nichts wachsen lässt, und der von denen genährt
wird, die die gelegentlichen Gewissensbisse von Richtern und
Intellektuellen als Beweis für einen breiten Konsens nehmen? Nun, es
ist sicherlich unmöglich zu sagen, was unfreiwillig komischer ist:
der Vorschlag eines norwegischen Politikers, einem der größten
Kriegsherren (dem NATO-Sekretär) den Friedensnobelpreis zu
verleihen, oder die Initiative einiger „Anarchist:innen“, die
darauf abzielt, „das ohrenbetäubende Schweigen des Pächters der
Quirinalspalast“ [Dienstsitz des Präsidenten der Italienischen
Republik] zu brechen, um „das Gewissen (und den seligen
Schlaf…) derer zu wecken, die die Sicherheit von Alfredo schützen
sollten“. Wenn man von denen hört, die unermüdlich ihre
„Solidarität mit Alfredo und seinen Praktiken“ bekunden, dass
ein Staatsoberhaupt über die Gesundheit eines Staatsfeindes wachen
sollte, ist man geneigt, die Worte eines berühmten französischen
Anarchisten zu paraphrasieren4,
der das Schafott bestieg: In dem virtuellen Krieg, den sie der
Bourgeoisie erklärt haben, fordern bestimmte Anarchist:innen Schutz;
sie geben nicht den Tod, sie fordern, ihn nicht zu erleiden.
Im
Gegensatz zu denjenigen, die sich in einer Fata Morgana sonnen und
aus den Äußerungen einiger Fernsehjournalisten, die den
Hungerstreik von Cospito kommentierten, eine elektrisierende Schwäche
des Staates ableiten, scheint es uns im Gegenteil, dass die
Anarchist:innen mehr als nur schwache und authentische Marionetten
geworden sind, wenn sie darauf reduziert werden, zu Megaphonen der
verfassungspolitischen Kämpfe zu werden. Der Staat hat es nicht
einmal mehr nötig, die anarchistische Bewegung zu liquidieren, die
sich selbst liquidiert hat, indem sie auf ihre eigenen Ideen
verzichtet hat, um pragmatische taktische Annäherung zu
verwirklichen. Wenn heute ein großer Teil der Linken sich den
Anarchist:innen anschließt, dann nicht, weil die Ereignisse sie dazu
zwingen, sondern weil diese Anarchist:innen heute fast die Einzigen
sind, die dem Aufruf folgen, „etwas Linkes, oder auch etwas
Nicht-Linkes, etwas Zivilisiertes zu sagen…“ – wie zum Beispiel
die Abschaffung des 41bis zu fordern. Übrigens, habt ihr euch schon
gefragt, wie viel Hoffnung auf einen Sieg in einem solchen Kampf
besteht? Wenn man bedenkt, dass die Qualen eines Anarchisten im
Gefängnis und ein paar zerbrochene Fensterscheiben im Jahr 2023 den
Staat wahrscheinlich genauso wenig brechen können wie die Bomben der
Mafia, die vor dreißig Jahren explodierten, wie viele Stiche können
wir dann noch spielen? Der Erlass der Freiheitsstrafe nach Artikel
41bis und die Nichtanwendung der lebenslangen Freiheitsstrafe in
seinem Fall? Was für ein großartiger Sieg: Unter dem Regime der
gewöhnlichen Hochsicherheit hätte er nur mit zwanzig Jahren
Gefängnis rechnen müssen…
Vor
vierzig Jahren gab es diejenigen, die den Vorschlag einer Amnestie
für die politischen Gefangenen mit der Begründung kritisierten,
dass der moralische Druck von viertausend in Einsamkeit sterbenden
Leichen keine Verhandlungen mit dem Staat rechtfertigen könne. Man
dürfe nicht die Freilassung der Genossen fordern, um den Kampf
wieder aufzunehmen, sondern man müsse kämpfen, um die Freilassung
der Genossen zu erreichen. Selbst wenn man die unterschiedlichen
historischen Kontexte berücksichtigt, ist in der Tat ein Jahrtausend
vergangen, wenn man heute die Änderung des Gefängnisregimes für
einen Anarchisten (plus drei Stalinist:innen und ein paar hundert
angebliche Mafiosi) zum Ziel der Mobilisierung einer ganzen Bewegung
macht. Man kann ein schönes Märchen über die anarchistische
Außergewöhnlichkeit in der allgemeinen italienischen Situation
erzählen und sich heute die Qualen der Bourgeoisie vorstellen, die
wütend auf den Staat ist, weil er die Anarchist:innen „entfesselt“
hat, so wie man sich gestern die Wiederauferstehung der Pariser
Kommune unter dem Himmel von Venaus5
vorgestellt hat. In Wirklichkeit herrscht der Staat heute so
unangefochten, dass er sich alles erlauben kann: Anarchist:innen nach
Belieben im Gefängnis verrotten zu lassen, Gewerkschafter wegen
Erpressung anzuklagen oder Umweltaktivisten unter besondere
Beobachtung zu stellen. Warum sollte er das nicht tun? Weil es
verfassungswidrig ist? Wenn er 60 Millionen ehrliche Bürger in den
eigenen vier Wänden eingesperrt hat, ohne dass jemand einen Mucks
von sich gegeben hätte, ja sogar unter dem Beifall vieler
r-r-Revolutionäre, dann kann er doch einen Anarchisten tot oder
lebendig begraben. Ohne sich rechtfertigen zu müssen. Vor wem sollte
er sich rechtfertigen? Vor den Journalisten? Vor den Intellektuellen?
Vor den Politikern? Vor den Juristen? Vor der öffentlichen Meinung?
Vor den Untertanen, die ihren eigenen Schatten und sogar ihren
eigenen Atem fürchten? Vor den Subversiven, die nur Forderungen zu
stellen vermögen, dass der Staat sich besser, gerechter und fairer
verhalten soll?
Der
Sieg des Staates ist dann wirklich vollkommen, wenn seine Feinde nur
noch seine eigene Sprache sprechen und zeigen, dass sie nicht mehr
den Himmel stürmen wollen (sie begnügen sich damit, ein paar Höhlen
in der Erde zu verteidigen).
Alfredo
Cospito lebt noch und setzt seinen Hungerstreik fort. Er tut, was er
kann und was ihm einfällt, um aus dem Loch herauszukommen, in dem er
eingesperrt ist. Aber da er sich in den Händen des Staates befindet
und dieses Spiel ausschließlich auf institutionellem Boden gespielt
wird, gibt es keinen Grund, optimistisch über sein Schicksal zu
sein. Die Regierung hat reichlich Gelegenheit, mit der Situation zu
jonglieren. Sie kann sich einen Dreck scheren und in der Tradition
des Patriotismus die Dinge gerade rücken, sie kann die Tortur des
Gefangenen durch Zwangsernährung verlängern, sie kann sich heute
großzügig zeigen, um morgen noch grausamer zu sein. Er kann sogar
eine gewisse humanitäre Gesinnung an den Tag legen und dann den
Stecker ziehen („Oops, es gab eine Komplikation, es tut uns leid,
wir haben alles getan, aber ihr wisst ja, wie das ist, sein Körper
war geschwächt“). Wie jeder Glücksspieler weiß, gewinnt auf
lange Sicht immer die Bank.
„Wenn
die Sinopen mich zur Verbannung verurteilt haben, verurteile ich sie
dazu, in ihrer Heimat zu bleiben“, soll Diogenes der Zyniker gesagt
haben. Ist das die Kunst, gute Miene zum bösen Spiel zu machen oder
eine zornige Lebensphilosophie? Liebe Gefährten und Gefährtinnen,
auch wir sind zum Exil verurteilt, zum ewigen Exil, weil es in dieser
Welt keinen Platz mehr für uns gibt. Ein Traum nach dem anderen, ein
Wunsch nach dem anderen, eine Freiheit nach der anderen, alles wird
uns entrissen. Und das Wissen, dass das Aussterben der
Freiheitsliebenden dem Aussterben der Verfechter der Autorität
vorausgeht, ist für uns kein großer Trost. Aber hier, inmitten von
Einsamkeit und Verzweiflung, gibt es nicht nur die Mutlosigkeit,
Bitterkeit, Melancholie, Übelkeit. Hier gibt es auch das, was man
den Mut der Verzweiflung nennt, die Entschlossenheit, alles zu
versuchen, weil man nichts mehr zu verlieren hat.
Finden
wir diesen Mut. Verbannen wir die domestizierten Zweibeiner dazu in
ihrer Heimat zu bleiben und vergeuden wir keine Zeit mehr damit,
ihren Parteien, ihren Klassen, ihren Bewegungen hinterherzulaufen.
Bereichern wir die Wege des Exils. Bereiten wir uns auf die
Einsamkeit vor. Üben wir, in der Wüste zu überleben, uns in der
Wüste zu bewegen, in der Wüste zu kämpfen. Ohne Skrupel, ohne
Mitleid. Für eine zornige Lebensphilosophie, für eine rachsüchtige
Lebensphilosophie.
Tod,
das Leben liegt auf der Lauer.
(gefunden
auf abirato.net)
1 Stig
Halvard Dagerman war ein schwedischer Anarchist und veröffentlichte
das Buch „Deutscher Herbst“. In diesem beschreibt er 1946 das
zerstörte Nachkriegsdeutschland. ein Bild des zerstörten Landes
nach dem Weltkrieg zu geben.
2 Es
wird sich höchstwahrscheinlich auf die italienweit mobilisierte
Demonstration in Turin am 04.03.2023 bezogen. Im Verlauf dieser
Demonstration kam es zu massiven Angriffen auf Banken,
Luxusautos/Geschäfte.
3 In
Rahmen einer richterlichten Ermittlung, u.a. geleitet von Gherardo
Colombo wurde behauptet, das Giuseppe Pinelli angeblich, als er am
Fenster auf der Polizeiwache, einen Schwächeanfall hatte dadurch
aus dem Fenster gestürzt sein muss.
4 Im
Original heißt es: „In diesem erbarmungslosen Krieg, den wir der
Bourgeoisie erklärt haben, verlangen wir kein Mitleid. Wir geben
den Tod, und wir wissen ihn zu ertragen.“ Es wird sich hier auf
Emile Henry bezogen der diesen Satz in seiner Prozesserklärung
verwendet hat. Knapp einen Monat danach wurde er mit 21 Jahren am
24. Mai 1884 vom Scharfrichter mit einem Fallbeil geköpft. Die
Autoren von dem Text „Der beste Angriff ist nicht die
Verteidigung“ haben den ursprünglichen Satz als Anspielung
umformuliert.
5 Venaus
ist ein Dorf was an der Grenze zwischen Frankreich in Italien liegt.
Es ist Drehangelpunkt im No-Tav (Bürger-)Kampf gegen den
Hochgeschwindigkeitszug, der Italien mit Frankreich verbinden soll.
Gewisse Bewegungsmanager und Gruppierungen sahen in diesem
weitgefächerten Kampf ein großes aufständisches Potenzial. Daher
der Vergleich mit der Pariser Kommune.